Sonntag, 29. September 2013

Kierkegaard und der Spießer (2)

Sören Kierkegaard hat gesagt, der Spießbürger habe keine Phantasie. Das müsste dann zu sehen sein. Die Zeichen des Spießers, nach Kierkegaard, wären also Zeichen der Phantasielosigkeit.

Der Gartenzwerg, der als ein Zeichen einer etwas veralteten, geradezu noch einmal zurückgebliebenen Spießigkeit gilt, taucht im aktuellen Werbespot der LBS wieder auf. Allerdings mit Bierflasche in der einen Hand und die andere zum Rockergruß erhoben. Der Gartenzwerg ist – danke LBS, na immerhin haben wir 2013 und die Metalszene ist vierzig Jahre alt – bei der ganz ganz modernen Musik angekommen. Er fährt wohl auch jedes Jahr mit nach Wacken und findet es echt prima dort. Einem Gartenzwerg eine Bierflasche in die Hand zu drücken, muss man nicht lustig finden und nicht originell – ich finde es nicht lustig und nicht originell –, aber der LBS-Spot will damit etwas sagen: Ein Gartenzwerg ist phantasielos, mit Bierflasche aber ist er ein phantasievoller Gartenzwerg geworden. Und nur noch tief drinnen spießig, versteckt. Wer so viel Phantasie hat, seinem Gartenzwerg ein Bier anzubieten, oder wer noch verrückter wäre, ihn mit Joint und Reggae-Mütze auszustatten, meinetwegen mit Bionade und Dinkelzwieback, er kann kein Spießer sein. Oder eben nur ein bisschen, er muss den Spießer erst in sich entdecken. Wenn er all seine ungeheure Kreativität für einen Moment beiseite räumt, taucht vielleicht der Rest-Spießer auf, der dann den Bausparvertrag unterzeichnen kann.

Dann hätte Kierkegaard Recht: Der Spießer gilt als phantasielos. Wer den Anschein der Spießigkeit zerstreuen will, der experimentiert mit seinen Gartenzwergen. (Ach, ein Buddha mit Parka und Existenzialistenbrille – für ihn hätte ich ein Lächeln übrig gehabt.)

Die Zeichen sind allerdings nicht eindeutig. Das weiß Kierkegaard. Ich sehe nun in sein Entweder/Oder hinein. Das Buch besteht aus zwei Teilen: Der erste wird erzählt von einem vollendeten Ästheten, einem Dichter und Lebenskünstler. Der zweite Teil besteht aus den Aufzeichnungen eines Gerichtsrates Wilhelm, verheiratet, solide. Es ist leicht, sich diesen Wilhelm als perfekten Spießbürger vorzustellen. Selbst die LBS würde ihn kaum für einen Werbespot buchen wollen, er wirkt zu langweilig. Aber er ist, nach Kierkegaards Auffassung, kein Spießbürger. Warum nicht?

Er weiß, was er tut. Er will es so. Der Spießer ginge in dem Lebenstrott auf, er wird Gerichtsrat, weil sein Vater einer war, denkt nicht weiter nach, heiratet, weil das der Bürger im 19. Jahrhundert so tat. Aber dieser Gerichtsrat Wilhelm, er fragt sich, wer er sei und wird dann eben zu diesem Gerichtsrat Wilhelm. Das klingt nun allzu sehr nach einer Kinderbuchweisheit: Der Hase, der nicht weiß, was er tun soll, geht zur Kuh – nein, Milch geben, kann er leider nicht –, dann weiter zum Schaf – auch die Wolle des Hasen braucht niemand. Schließlich entdeckt er, dass nur er ein Osterhase werden kann, dass dies sein Weg sei oder, wenn es damit nicht klappen sollte, er im Römertopf vom Gerichtsrat Wilhelm gut aufgehoben wäre. Die Moral: Horche in dich hinein, wer du bist. Selbsterkenntnis! Nichts gegen diese Kinderbuchmoral, aber dafür hätte es einen Kierkegaard nicht gebraucht.

Kierkegaard spitzt diese Moral unendlich zu. Es geht nicht allein um Selbsterkenntnis. Die ist Voraussetzung. Es geht ihm um die Selbstwahl. Der Hase, wenn er sich einmal als Hasen erkannt hat, muss sich ‚wählen‘. Das klingt paradox. Er kann sich doch eben nicht aussuchen, eine Kuh zu sein, sondern bleibt immer Hase. Wieso dann wählen? Er soll trotzdem wählen, das heißt, die Verantwortung dafür übernehmen, was er ist. Das ist eine Zumutung, denkt der Hase im Römertopf, und er hat auch Recht. Aber er kann aufhören mit dem Schicksal zu hadern, denn er hat ja gewählt. Er kann etwas aus sich machen, denn er ist ja verantwortlich. Soweit Kierkegaard.

Der Gerichtsrat, den Kierkegaard vorstellt, ist kein Spießer, denn er hat sich mit der vollen Verantwortung als verheirateten Gerichtsrat gewählt. Er will es so. Das wäre dann keine Phantasielosigkeit, sondern eine geistreiche Entscheidung.

Und natürlich findet auch der Hase noch seinen Weg aus dem Topf heraus und zur lustigen Ostereierfabrik – dieses glückliche Ende gönnen wir ihm.

Quellen: Sören Kierkegaard: Entweder/Oder II, übers. von E. Hirsch, Düsseldorf 1957, zuerst dänisch 1843.
Werbespot der LBS


Dienstag, 24. September 2013

Kierkegaard und der Spießer (1)


Ursprünglich wollte ich heute pusteblumig über den Ökospießer schreiben. Das hätte an den letzten Beitrag über ‚Die Grünen‘ angeknüpft. Doch das erscheint mir nach den Ereignissen des Sonntags ganz verkehrt. Schwarze Wolken sind aufgezogen. Die Grünen landeten hart. Was da alles passiert ist, in der Zeit zwischen den überragenden Umfragen und der tatsächlich Wahl, weiß ich nicht. Vielleicht haben zu Viele ihre Wahlunterlagen für handgeschöpftes Papier gebraucht. Jedenfalls ist der Ökospießer heute erstmal vom Tisch. Und die nötige flockige Stimmung habe ich auch nicht. Ich bin zu ernst. Da hilft Sören Kierkegaard. Entweder aus dem Ernst heraus oder um endgültig aus der ernsten Stimmung ein Lebensmotto zu machen – das weiß man vorher nicht.

Jedenfalls versuche ich mich nun an Kierkegaard und dem Spießer: Ich folge recht frei seinen Beschreibungen des Spießbürgers in dem Buch mit dem – nun ja, sehr ernsten – Titel Die Krankheit zum Tode. Das Buch handelt von der Verzweiflung des Menschen, wie er verzweifelt, woran er verzweifelt, warum er das kann. So etwas interessiert Kierkegaard. Er geht immer wieder dem menschlichen Geist bis in seine Abgründe hinterher. Die Angst ist zum Beispiel ein anderes wichtiges Thema für Kierkegaard. Hier die Verzweiflung. Die Verzweiflung, so Kierkegaard, ist eine Geisteskrankheit. Um also verzweifeln zu können, muss man Geist haben. Das Schaf auf der eingezäunten Wiese, das die allerletzten Grashalme frisst – ich vermute, der Ökobauer ist zur CDU gewechselt und hat seine Schafe vergessen –, es verzweifelt nicht. Das Schaf wird irgendwann verhungern, aber vorher nicht verzweifeln. Ihm fehlt der Geist. Und dem Spießbürger, so Kierkegaard, fehlt ebenfalls der Geist: „Spießbürgerlichkeit ist Geistlosigkeit“. Das ist einerseits vernichtend für den Spießbürger, andererseits zunächst nicht besonders einleuchtend, scheint doch zwischen dem Schaf und dem Spießer noch ein Unterschied zu bestehen. Wie hat Kierkegaard das gemeint?

Zurück zum Schaf, das ich nun mit ein wenig Geist ausstatte. Es wird zum ersten Mal auf diese eingezäunte Wiese gebracht. Es fängt an zu fressen, und es weiß, irgendwann wird kein Gras mehr übrig sein. Ein fatalistisches Schaf wird nun verzweifeln, weil es keinen Ausweg aus dieser Lage sieht. Ein Schaf mit Phantasie wird sich einen Ausweg denken können: Vielleicht wächst das Gras schneller als geahnt, vielleicht tut sich im Zaun eine Lücke auf, vielleicht fällt Gras vom Himmel. Dem Spießbürger fehlt die Phantasie, er hat nur die Alltagserfahrung und will alles da hineinzwängen. Er verzweifelt aber auch nicht, wie das fatalistische Schaf, er nimmt es, wie es kommt. Er frisst den letzten Grashalm und verhungert.

Vorher wird er sich ärgern. Das Schaf wird blöken, der Spießbürger schimpfen. Das kann er. Verdammt nochmal, wieder keine Ruhe, zehn Uhr durch und der Koslowski von oben hat immer noch die Musik an. Diese Scheiß-Politiker, die machen doch, was sie wollen, aber die sollten mal jeden Tag richtig was arbeiten, die wissen doch gar nicht, wie das ist. Wenn noch einmal dieser beknackte Mehmet, oder wie der heißt, seinen Ball in meinen Garten schießt!

So ungefähr könnte der Spießer, nach Kierkegaard, schimpfen. Alles wird hineingezwängt in die Alltagserfahrung. Der Spießer, er wird nicht verzweifeln, aber er wird vor allem nicht glauben, dass sich etwas ändern könnte. Alles läuft nach seiner Erfahrung ab. Er wartet schon auf den Ball des Jungen, der im Übrigen Mohammed heißt, er wartet schon, dass dieser Ball wieder in seinem Garten landet, um sich dann zu ärgern. Der Spießbürger hat seine Wahrscheinlichkeit. Er hat seine Erfahrung, aber keine Phantasie, keinen Geist.

Und das ist nun nicht erfreulich für den Spießer, sondern ziemlich ernst.


Quellen: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, übers. v. Hermann Gottsched, Jena 1911, zuerst dänisch 1849.

Mittwoch, 18. September 2013

Spießer wählen



Kürzlich stand es in der ZEIT: die Grünen „schauen sich bei ihrer eigenen Verspießerung zu“. Die Grünen als Spießer, ganz neu ist das nicht mehr, aber sobald ich es mir vor Augen führe, überrascht es mich doch. Sobald ich mich für einen Moment an die Geschichte der Grünen erinnere. Und ich meine gar nicht die ersten Reihen der grünen Ahnherren, die noch mit ein paar handlichen Wurfsteinen in den Hosentaschen bis ins Außenministerium stürmten. Soweit denke ich gar nicht zurück. Ich denke an Hans-Christian Ströbele, 2002, auf der Hanfparade. So habe ich die Grünen kennengelernt. Das sind meine ersten Assoziationen, wenn ich an politische Ziele der Grünen denke. Ströbele, der damals die 60 schon überschritten hatte, schreit die Freiheit für das Hanf heraus, das musste wohl ein politischer Gefangener sein, und auf der Straße wurde für seine Freilassung demonstriert.
Und zehn Jahre später: Hanf wurde nicht in die Freiheit entlassen, nein, Rindfleisch und Nikotin sollen ebenfalls gefangengesetzt werden. Das sind die Grünen kurz vor Bundestagswahl 2013.

Hätte man zumindest für die Veggie-Days den legalen Cannabis-Konsum in Aussicht gestellt, die Grünen ständen heute besser da. Nun soll verboten werden, was stört. Gute Gründe gibt es natürlich immer: Massenzigarettenhaltung in zu kleinen Schachteln, Passiv-Fleisch-Konsum – ich kenne mich da nicht so gut aus. Aber ja, Gründe gibt es immer.

Nicht, dass das zu Verwirrungen führt – das ist nun nicht unbedingt spießig. Nicht jeder, der gegen irgendetwas ist und nicht für alles, ist ja Spießer. Aber alles mit kleinen Verbotsschildchen zu versehen, alles auf eine Lebensanschauung hin umbiegen – das sind doch starke Anzeichen für die Verspießerung der Grünen.

Und einer zweiten Verwirrung soll vorgebeugt werden. Aus Sicht dieses Blogs muss nicht besonders vor den Grünen gewarnt werden, als wären hier die Spießer zu finden und sonst nirgends. Als sei das grüne Parteibuch der Neo-Bausparvertrag. Ich betreibe nun drei Minuten Feuilleton-Wissenschaft, um das abschließend klarzustellen:

Google-Treffer für…
‚Angela Merkel‘ und ‚spießig‘: 97.200
‚Philipp Rösler‘ und ‚spießig‘: 93.700
‚Peer Steinbrück‘ und ‚spießig‘: 23.100
‚Claudia Roth‘ und ‚spießig‘: 10.200
‚Gregor Gysi‘ und ‚spießig‘: 5.000

Claudia Roth hat vor einer Woche ein Interview gegeben zu diesem Vorwurf, die Grünen würden immer spießiger. Das Interview ist kaum Rede und Antwort wert. Denn die Claudia hat sogar selbst nen Gartenzwerg, was dann offenbar beides belegen soll: Ein Gartenzwerg ist nicht spießig und die Grünen sind nicht spießig. Bemerkenswert vor allem, dass ausgerechnet die taz dieses Interview mit Frau Claudia Roth führte. Die taz, die vor ein paar Jahren um den Neo-Spießer warb und nun – ganz subversiv – Claudia Roth als Spießerin entlarven will. Den Spießer, so meine Erkenntnis aus dem Interview, will die taz doch nicht mehr. Also vielleicht als Leser noch, aber nicht als amtierende Politikerin.


Sonntag, 15. September 2013

Annäherungen, Abgrenzungen


Nehmen wir ein beliebiges Anzeichen von Spießigkeit. Nehmen wir einen 80er-Jahre Klinkerbau. So ein bräunlicher Klinker, ins nikotingelbe dezent hinüberspielend. Breite Fugen, grobe Struktur. Enorme Dämmung! So Pflegeleicht! Da brauchste nie wieder was dran machen, dein ganzes Leben nicht. Der Spießer, der gerade mit seinem Bausparvertrag wedelt, ist noch zu sehen, sein Schatten hat sich eingebrannt in die Klinkerwand. Ich verabscheue diese Klinkerwand! Ich verabscheue diese Häuser der 80er! Könnte ich jemals in so einem Haus wohnen?


Ich wohne in diesem Klinkerbau der 80er Jahre. Und beim besten Willen: es ist Klinker, grobe Struktur hin oder her. Und ich setzte mich davor und nahm alle Phantasie zusammen, es blieb der spießige Klinker; mit Bruchsteinen – bedauerlich – nicht zu verwechseln. Dennoch ein freiwilliger Einzug, der gar nicht lange zurückliegt. Ob ich damit meine Problemchen habe, mit diesem spießigen Klinker? Die Frage ist für die, die hier mitlesen, wohl bereits beantwortet – denn ich schreibe ja darüber, ich muss das immer und immer selbst ansprechen, jaja, ist mir bewusst, dass so ein 80er-Klinkerbau auch ein Stückerl spießig wirken könnte, wenn er denn auffällt – aber wie sollte er nicht, wurde doch jede freie Wand von außen vollgeklinkert. Das könnte dann spießig wirken. Eine Freundin beruhigte mich: „Aber hier ja nicht so sehr. Ist ja hier keine rote Klinkerneubausiedlung am Rande Lüneburgs.“ Das überraschte mich: „Ich find's hier viel spießiger als dort im Norden, dort wo Klinker einfach Klinker ist und für nichts weiter stehen muss, dachte ich.“ So unterschiedlich die Sehweisen. Die Zeichen sind nicht eindeutig. Unterschiedliche Sehweisen.

Und selbstverständlich: unterschiedliche Zeiten. Wer mag das spießig nennen?


(Foto: Chilehaus, von Daniel Ullrich bei Wikimedia)

Das ist so selbstverständlich, dass die Zeiten die Zeichen verändern. Niemand wird auf die Idee kommen August I., Kurfürst von Sachsen, dann König von Polen, einen Spießer zu nennen. Viel wurde ihm vorgeworfen: die vielen Frauengeschichten, das viele Großtun mit seinen Frauengeschichten, Prunk- und Ruhmsucht, Verschwendung. Ganz in Gold steht er in seiner Dresdner Neustadt, aber nicht als August der Spießer. Nein, wirklich niemand käme auf diese Idee.

Eines seiner Schlösser, Schloss Moritzburg in Sachsen, eine umgebaute Wasserburg, zeigt noch immer trutzig vier wuchtige Türme dem Besucher. Die Umgebung reißt hin, die angelegten Seen samt kleinem Leuchtturm, natürlich in der Nähe des Schlosses ein kleineres Schloss, mehr Laube, für die Liebeleien – das findet sich immer! –, die prunkvolle Einrichtung aller Räume. Und hier dann endlich, ja: Hirschgeweihe. Und nicht aus Plüsch und nicht ironisch. Ein Jagdschloss eben. Auf die Zeichen ist kein Verlass.

Ich bleibe kurz bei August – wer bliebe denn nicht? – und drehe den Spieß um: Er kann kein Spießer sein: weiter Horizont, extreme Persönlichkeit. Die Geisteshaltung des Spießers: Kein Verständnis für das Andere. Nun, damit holte man vielleicht Jack the Ripper an Bord, der sich in den Anderen wohl auch nicht recht hineinversetzen mochte, aber der Spießer ist kein Psychopath, er mag's vielleicht noch werden, aber noch ist er es nicht, solang er Spießer ist. Er meidet die Extreme, wird niemals radikal.

Also: Das Wasserschloss für den Kurfürsten, das Chilehaus für den Immobilienfond und im 80er-Jahre- Klinkerbau denke ich über den Spießbürger nach.

Mittwoch, 11. September 2013

Wozu dieses Blog?


Der Spießer ist doch erledigt. Uninteressant geworden, weil er gar nichts mehr trifft, ins Leere spießt. Der Bürger mit Spieß, der – so passend – zum Kampfbegriff wurde, erschreckt nun niemanden mehr. Fast zehn Jahre ist es her, dass die LBS in einem Werbespot den Spießer, der schon immer der beste Bausparer war, ganz unverblümt in der Werbung ansprach: Papa, wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden. Das hat sicher hingehauen. Der Spießer sollte raus aus seiner muffig eingerichteten Ecke, hinein ins hippe Eigenheim. Zwei Jahre später, 2006, warb die taz um den Neo-Spießer. Der Neo-Spießer und die taz – das heißt, der neue Spießer ist gar keiner. Der Mainstream ist nach links hin abgeflossen, dort wo die taz schon ist. Natürlich: Auch ironisch geht’s mit dem Spießer, die Jugendzeitschrift Spiesser spielt damit, so wie das Hirschgeweih aus Plüsch für die Wand. Das kapiert jeder. Das Plüschgeweih hängt da ironisch im Zimmer herum, das schaut man Tag für Tag ironisch an und freut sich über die eigene witzige Überlegenheit. Das ironische Eigenheim und der ironische Bausparvertrag sind dagegen nicht so einfach vorzustellen. Ganz ironisch im eigenen Zuhause kann man nun nicht täglich herumsitzen. Und ironisch lässt sich der Bausparvertrag eben nicht unterschreiben. So einfach lässt er sich dann nicht erledigen, der Spießer.

Aber warum nochmal der Spießer? Warum über den alten Spießer bloggen, wie Brentano oder Kierkegaard ihn sich dachten? Warum über den Spießer schreiben, als ob es den noch gäbe wie 1968, als er, sonnabends, nur durch einen Jägerzaun von der Gartenzwerggesellschaft getrennt, seinen Neuwagen wusch, hingebungsvoll!?
Ich nenne drei Punkte – so viel Ordnungssinn muss (nun wieder ironisch?) sein –, warum er mich interessiert:

1) Wenn Sören Kierkegaard über den Spießer schreibt, schreibt er darüber, was er alles nicht ist, nicht sein will. Die Schriftsteller, die Philosophen und Künstler, das sind die Unspießigen. Sie grenzen sich ab. Indem ich über die Geschichte des Spießers nachdenke, erfahre ich also etwas über die Philosophie oder Literatur. 

2) Der Spießer hat seine Zeichen: den Jägerzaun hatte er sicher einmal. Daran konnte man ihn erkennen. Wer sein Haus mit dem Jägerzaun umzäunte, musste ein Spießer sein. Aber um den Zaun ging es ja nie. Die Zäune waren gleichgültig. Dahinter steht eine Geisteshaltung, so behaupteten die Anderen, die Nicht-Spießer. Steckt hinter der Zeitung der kluge Kopf, so hinter dem Jägerzaun eben der eingezäunte Horizont. Der enge Horizont, der ist ärgerlich und wurde verurteilt. Aber man konnte ihn schon sehen – wie verblüffend! – wenn man sich nur dem Hause näherte.

3) Und dann gibt es Momente, da denke ich: scheiße, das ist ja spießig! Auch ohne Zaun, ohne die alten Zeichen der Spießigkeit. Und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Warum zuckte ich? Was schreckte mich denn ab? Lässt sich denn irgendetwas über den Spießer sagen, was seine Geisteshaltung betrifft? Gibt es diese Haltung immer noch oder ist sie zu den Akten der Geschichte gewandert? Wenn ich denke, wie grässlich spießig, grenze ich mich wieder ab. Weder taz noch LBS haben mich erreicht. Ich will kein Neo-Spießer sein, bitte nicht! Und wenn der Kopf, der hinter der taz steckt, der des Neo-Spießers ist, dann mag ich das Blatt nicht lesen. Warum denn eigentlich nicht?

Ich werde hier also über den Spießer bloggen. Dort, wo er in der Literatur auftaucht und wo er mir sonst begegnet. Im besten Fall: eine Wortgeschichte in Anekdoten.