Mittwoch, 25. Juni 2014

Eingeschlossen: Ernst Nowaks Roman „Die Unterkunft“


Die Fußballweltmeisterschaft läuft. Brasilien ist dran, und mehr oder weniger brasilianisch ist auch das Motto – irgendwas mit „Rhythm“. Es ist die vorerst letzte WM, die möglicherweise ohne Bestechung ausgekommen ist, jedenfalls ohne Bestechungsskandal. Die öffentlich-rechtlichen Sender können sich also ganz dem Fußball widmen – natürlich, sie werden, wie immer, auch ihrem Bildungsauftrag gerecht, sie zeigen zwischen zwei Spielen ganz genau wie es in diesen Slums zugeht und wie nur „der Fußball“ den halbgescheiterten Drogendealern noch Hoffnung geben kann. 

Noch lieber sehe ich, wie Müller-Hohenstein die letzten Eindrücke vom Zustand der deutschen Mannschaft vermittelt. Ich will wissen, welche Muskeln gerade zumachen und wie es um sämtliche Adduktoren steht. Gerne schaue ich mir das Quartier an, wo sie nun für die Zeit der WM leben, die Deutschen. Gerne werfe ich einen Blick auf den Strand, wo Löw ein Dauerläufchen macht oder Schweinsteiger vor der Kamera den brasilianischen „Rhythm“ einübt. Ach, dieses Quartier. Die haben es ja gut, diese Deutschen da in Brasilien. Da lässt es sich aushalten, so möchte ich mal weggesperrt sein. Meinetwegen auch in Gesellschaft der deutschen Nationalmannschaft.

Der Zweck dieser Einquartierung ist klar: Alles wird dem weltmeisterlichen Ziele untergeordnet, nichts soll ablenken, bis der Pokal den deutschen Händen übergeben worden ist. Indem die Mannschaft auf dieses Quartier beschränkt ist, soll sich ein „Gemeinschaftsgefühl“ besser einstellen. Und ein Gemeinschaftsgefühl, das abends am Pool sich einstellt, das stellt sich dann auf dem Fußballplatz ein, was wiederum dazu führt, dass eine „geschlossene Mannschaftsleistung“ den „brasilianischen Einzelkönnern“ den Garaus macht. So einfach ist das!

Wenn das so einfach ist, wäre es dann nicht reizvoll, diese zeitweise Einquartierung ein wenig auszuweiten. Sagen wir mal auf unbestimmte Zeit für eine gesamte Gesellschaft? Ernst Nowak spielt in seinem – lesenswerten – Roman „Die Unterkunft“ aus den 70ern eine solche Idee durch. Es ist kein realistischer Roman, auch kein Harry-Potter-Realismus, der eine geschlossene durchdachte Welt vorstellt. Es ist eine arge Konstruktion, die Nowak da zusammenzimmert.

Der Erzähler beschreibt gleich zu Beginn des Romans die Unterkunft, die von einer hohen Mauer umschlossen ist. Es ist deshalb fast unmöglich aus der Unterkunft hinaus- oder in sie hineinzugelangen. Die Mauer ist so selbstverständlich da, dass sie eigentlich nicht mehr auffällt. Am Ende des Romans weiß der Erzähler nichts mehr von ihr zu berichten, er hat sie vergessen.
Das ist, wie angedeutet, nicht gerade wahrscheinlich. Wieso sollte er die Mauer vergessen haben, wie sollte er sie bezweifeln können? Das kann man ja nur psychologisieren, sonst versteht man das nicht, wie Oliver Kahn nach dem Biss von Suarez erklärte. Hier also: Das vollkommen Selbstverständliche entgleitet der Aufmerksamkeit.

Dabei ist der Erzähler in Nowaks Roman ein ständig beobachtender und reflektierender Mensch. Doch seine Reflexionen überschreiten niemals diese Grenze der Unterkunft, sie wollen alles innerhalb der Logik dieser Unterkunft und ihrer Unterkunftsleitung erklären. Das wirkt beklemmend, denn es ist eine Konstruktion, die an historische totalitäre Systeme erinnert. Das System ist dabei so sehr verinnerlicht, dass es ein „Außen“ nicht mehr gibt. Alle Kritik, und die formuliert der Erzähler reichlich, verbleibt innerhalb dieses Systems. Mehr noch, sie rechtfertigt letztlich das Leben innerhalb der Unterkunftsmauern.

Das ganze funktioniert dabei recht gut. Das System ist stabil, gute Voraussetzungen für die deutsche Mannschaft also. Was hat nun Ernst Nowaks Roman mit Spießbürgerlichkeit zu tun? Die Lektüre nährt einen Verdacht: Der Roman ist ein ins Totale vergrößertes System des Spießbürgers. Es fehlt die Phantasie, es siegt die Ordnung:

„Die Ordnung, hat der Verantwortliche gesagt, soll sein wie ein guter Fremder, dem ein kleiner Hund erst einmal böse kläffend entgegenspringt, vor dem der Hund erst, ohne ihm zu nahe zu kommen, hochspringt, zurückweicht, hochspringt, den der Hund aber dann bald schnuppernd umschleicht, durch Wedeln, kurzes Vorspringen, sich Ducken, kurzes Zurückspringen und freundliches Hinschnappen auf sich aufmerksam machen will und schließlich, wie selbstverständlich, begleitet.“

Quelle: Ernst Nowak: Die Unterkunft, Salzburg: Residenz Verlag 1975.

Mittwoch, 11. Juni 2014

Gute Gründe: Ein Aphorismus von Richard von Schaukal


Zehn gute Gründe, um wählen zu gehen. Fünf gute Gründe, um mit dem Rauchen aufzuhören. 1000 gute Gründe für Europa. Zwei gute Gründe für Heidi Klums neu entfachte Liebe zu Seal. Ein guter Grund für Lokalpatriotismus.

Gründe sind, so könnte man aus dieser kleinen Nachrichtenschnipselsammlung schließen, wichtig. Und am wichtigsten sind gute Gründe. Wer nicht wählen gegangen ist, hatte immerhin zehn Gründe gegen sich, gute Gründe, die kaum zu widerlegen sein dürften. Wie hält ein Nichtwähler das überhaupt aus? Ich war selbstverständlich wählen, ich gehe fast immer wählen, wenn es etwas zu wählen gibt, ganz egal was. Eine Abstimmung über eine neue Straßenbahnlinie? Ich wähle. Zehn gute Gründe für die Wahl plus einen für meinen Lokalpatriotismus. Das macht elf. Das nennt der Philosoph wohlbegründet. – Sogar diese Europawahlen? Ja, ich war dabei, sogar dort, habe gewählt, irgendetwas parteiförmiges, europäisches, Hauptsache man wählt.

Richard von Schaukal schreibt in seinem eigenwilligen Buch „Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser“:

„Man erkennt den Philister daran, daß er niemals um Gründe verlegen ist und immer Zwecke fordert. Der Dilettant ist der unbegründet Zwecklose.“

Es ist also besonders spießig, kleingeistig, philiströs, wenn man gute Gründe anzugeben weiß? Die Figur, die diesen Aphorismus niederschreibt, ist ein Dandy. Ein Dandy ist in mancher Hinsicht das Gegenstück zum Spießer: Während der Spießer sich verschließt, ins Kleine zielt, will der Dandy ganz groß, weltgewandt, unabhängig scheinen. Er, das ist klar, lebt nicht in der Welt der kleinen Zwecke, geht eben nicht arbeiten, um Geld zu verdienen. Aber Arbeiten und Geldverdienen ist nun nicht in jedem Fall philisterhaft zu nennen.

Ein Dandy um 1800: Fiel damals auf, fällt heute auf. Bild von Carl Vernet, Quelle: Wikimedia. 

Es wird deutlicher, was gemeint sein könnte, wenn zum Beispiel die Liebe, die Leidenschaft ins Spiel kommen. Zehn gute Gründe, warum ich in diese Frau verliebt bin? Zehn Gründe, warum ich dem HSV alles erdenklich Gute wünsche. Da fällt mir doch keiner einziger ein. Trotzdem, den HSV finde ich gut! Für Bayern oder St. Pauli könnte ich spielend leicht Grund um Grund aufzählen. Der erfolgreiche Fußball oder die braunen Trikots, die vielen Tore oder verrückte linke Fans, Paulaner oder Astra.

Oder die Liebe: Gründe, warum man sich in DIESE Frau verliebt hat? Klar, das ließe sich wissenschaftlich unterlegen: Eine bestimmte psychische Disposition; Pheromone, die allzu heftig wirkten; Hormone, wie Oxytocin etc. Eine ebenso gute Erklärung hatten bereits die antiken Römer: Ein Pfeil von Amor!

Hier Gründe zu suchen, bedeutet vor allem, Verantwortung wegzuschieben, eine Ausrede sich schon zurechtzulegen. Denn ich hatte doch gute Gründe damals für den HSV.  Den kleinen Nutzen und den kleinen Zweck vorzuziehen, kann bedeuten, die Welt in eine allzu starre Ordnung zu bringen, wo außerhalb des guten Grundes, des Nutzens nichts übrig bleibt.
Messi ist der Grund für Argentiniens Weltmeistertitel. Fünf Gründe, warum Brasilien das Tunier gewinnt. Deutschland ist der Favorit: 10 Gründe. Ach, zehn, ja? Wirklich? Das warte ich ab.

Montag, 2. Juni 2014

Auf dem Rand eines Sandkastens sitzend


In einem Sandkasten gilt die soziale Auslese nicht. Kleine Kinder wissen noch nicht, was Marken sind, da sind die falschen Spiderman-Leuchte-Schuhe auf einmal der Hingucker. Es ist ihnen gleichgültig, ob die Verben richtig konjugiert werden. Sie achten nicht darauf, welche Felgen der Kinderwagen hat.

Alles ganz falsch. Natürlich, der Sandkasten wird von den Eltern gut gewählt. Der Sandkasten in der zuverlässig gentrifizierten Gegend ist immer eine gute Wahl. Um die soziale Auslese kümmern sich also die Erziehungsberechtigten. Und sie schreiten ja auch ein, wenn ihren Schützlingen etwas zuzustoßen droht, wie jetzt gerade, da springt der Mann, kurze Jeanshose, Boss Poloshirt, auf: „Nicht unten an der Rutsche stehenbleiben, Ferdinand. Sieh mal, die großen Kinder rasen da ganz rücksichtslos hinunter. Das ist ein Höllentempo. Mach immer gleich die Rutschbahn frei und geh zwei oder drei Schritte weg.“ Ferdinand sieht seinen Vater mit großen Augen an. Der redet weiter: „Die rufen auch gar nicht, ‚Bahn frei‘, das habe ich dir ja immer gesagt. Ruf ‚Bahn frei‘ und rutsch nicht einfach los. Das ist ganz wichtig, ja? Und immer schauen, du musst immer schauen, ob die Bahn dann frei ist. Und so schnell musst du auch nicht rutschen.“ Ferdinand ist nun die Lust am Rutschen vergangen, er läuft zur Schaukel, um sich anderen Gefahren auszusetzen.

Die soziale Auslese eines öffentlichen Spielplatzes funktioniert unzureichend. Zu viele Kinder schlüpfen durch die Maschen des sozialen Netzes, die Eltern wählen einen Spielplatz außerhalb des eigenen zugewiesenen Siedlungsbereichs. „Romeo!“ höre ich eine Mutter, „Romeo!“ Sie ruft immer wieder: „Romeo, komm da runter!“ Sie sitzt, wie ich, auf dem Rand des Sandkastens, Romeo, keine zwei Jahre alt, ist auf einen kleinen Felsbrocken geklettert, es ist tatsächlich hoch für einen so unerfahrenen Kletterer. Er kommt nicht weiter nach oben, im Überhang ist er ungeübt, er will nicht umkehren, Sportlerehrgeiz. „Romeo, komm da runter!“ ruft wieder die Mutter. „Romeo komm da runter! John-Claude, hol mal Romeo da runter!“ Romeo ist schnell gerettet, Ferdinands Vater zuckt mit den Achseln.

Ich schaue mich um, sehe die weißen Brüste einer vierzigjährigen Sozialpädagogin, ein Säugling macht sich daran zu schaffen. Dann gibt es Aufregung an der Schaukel. Ferdinand steht am Rand, sein Vater hinter ihm. Ein anderer Vater, unrasierter Medientyp, schimpft mit seiner Tochter: „Jetzt komm! Andere wollen auch mal schaukeln. Du schaukelst nun eine ganze Weile. Du musst andere ranlassen. Jetzt ist der nächste dran. Du willst ja auch nicht so lange warten?“ „Doch“, antwortet die Tochter. „Nein, willst du nicht. Du freust dich auch, wenn du nicht lange warten musst, sondern ein Kind für dich Platz macht!“ „Nein!“ widerspricht die Tochter. Er redet weiter auf sie ein. Ferdinands Vater sagt zu seinem Sohn: „Geh doch zur Rutsche zurück, du kannst später schaukeln, das Mädchen will jetzt noch nicht die Schaukel freimachen.“ „Genau“, sagt das Mädchen. „Nein“, sagt der Vater des Mädchens, „du darfst schaukeln! Renata macht gleich die Schaukel frei. Sie hat lang genug geschaukelt. Ja? Renata?!“ Das Mädchen nimmt immer mehr Schwung, ihr Vater muss zurückweichen, Ferdinand beginnt zu weinen. „So, genau, nimm noch einmal Schwung, schaukel noch einmal ganz hoch, und dann kommst du herunter!“ „Mach ich gar nicht!“ ruft das Mädchen.

Ich kann nicht länger zusehen, denn nun muss ich aufspringen. Luisa, meine Tochter, hat einem anderen Kind vermeintlich Sand in die Augen geworfen. So lautet jedenfalls der Vorwurf. Ein anderes Mädchen sitzt im Sandkasten und brüllt. Vollkommen übertrieben, denke ich. Es ist nur Sand, und sicherlich nicht in die Augen. Das macht Luisa nicht. Die Mutter des Mädchens ist wütend: „Das darf ja nicht wahr sein! Einfach Sand in die Augen! Mit voller Absicht!“ „Wirklich, Luisa, stimmt das?“ Meine Tochter schweigt. Ich weiß ohnehin, dass sie absichtlich in die Augen gar keinen Sand geworfen haben kann. Absichtlich auf das andere Kind, das mag noch angehen. Aber die Augen können, sofern es überhaupt wahr ist, nur ein unglücklicher Treffer, ein Unfall gewesen sein.

Ich sage: „Was ist denn passiert? Entschuldige dich mal, Luisa! Aber was ist denn vorher passiert?“ „Vorher“, die Mutter schreit nahezu, „wieso vorher? Sand! Absichtlich in die Augen! Eine ganze Handvoll!“ Ich bemerke, jetzt selbst ein wenig ungehalten: „Eine Handvoll nun nicht gerade, wie soll man denn eine Handvoll Sand in die Augen werfen? Ein bisschen Sand allerhöchstens. Und es tut ihr ja leid, das sehen sie ja.“ Weder Kind noch Mutter beruhigen sich. Die Mutter sagt: „Das ist echt ein asoziales Verhalten! Ich würde mich schämen!“ Ich bücke mich und nehme eine Handvoll Sand. Ich werfe der Mutter den Sand ins Gesicht. Eine ganze Handvoll. Das ist sehr viel, denke ich. Ich stelle mir Luisas kleine Hände vor, die nicht die Hälfte Sand aufnehmen können. Es könnte doch wahr gewesen sein, denke ich. Die Mutter, endlich still, reibt sich den Sand aus den Augen. Auch ihre Tochter ist leise geworden. „Du bist ein schlechtes Vorbild“, sage ich zu Luisa.