Montag, 29. September 2014

Schwarmstädte: Raus aus der Provinz!


Regional, schrieb ich, soll die Welt retten. Und „Landlust“ heißt das Magazin für den Weltenretter. Regional boomt, Weltenrettung boomt, Landlust boomt. „Baummörder“ ist hier an eine Hauswand gesprüht. Alte Bäume mussten an dieser Stelle weichen, weil die Kanalisation umfassend in Stand gesetzt werden muss. Darf man denn Landschaftsgärtner „Mörder“ nennen?

Nun von der Weltenrettung wird vor allem geträumt. Der Ami liest seinen Superhelden-Comic und hat Obama, der Deutsche liest „Landlust“ und lebt in Duisburg. Ist das gleiche. In der „ZEIT“ waren zwei Karten zu sehen, die die Veränderung zeigen, wo Menschen vor zehn Jahren und wo sie heute wohnen wollen: Sie wohnen heute in der Schwarmstadt.


Wer am Hüinghausener Bahnhof aussteigt, hat nur noch ein Wort auf der Zunge: Provinz. Bild von Stefan Kunzmann auf Wikimedia. 

Schwarmstadt nennt Felix Rohrbeck in dem Artikel die Städte, in die viele junge Menschen ziehen. Die Karten zeigen nicht einfach die Bevölkerungszunahme, was nahegelegen hätte, sondern den Anteil der Unter-35-Jährigen, der in der Stadt wohnt – bezogen auf die Zahl der Unter-35-Jährigen in Deutschland. Das klingt kompliziert, ist aber einleuchtend. In Deutschland ziehen, wenn überhaupt, nur junge Menschen um. Mit 40 tut sich das keiner mehr an. Wie die Manufactum-Teekanne sicher verstauen? Wie die Schrankwand abbauen? Zu kompliziert, sagen da viele ganz zu recht.

Zum Studium kann man so einen Umzug ein-, vielleicht zweimal unternehmen. Dann ankommen, bitte. Die Karten zeigen Veränderungen über die Zeit: Immer mehr junge Menschen ziehen in einige wenige Städte, in der Provinz dagegen bleiben die Alten. Das klingt, zugegeben, nicht überraschend,  Universitätsstädte sind attraktiv, war schon immer so. Einerseits hat sich das, so ist zu sehen, verschärft. Na gut, es studieren ja immer mehr. Mit Geld und Zukunftsaussichten hat das längst nichts mehr zu tun, Studieren ist halt toll. Nach drei Jahren Kulturwissenschafts-Bachelor kann man alle mal noch seine Frisör-Ausbildung machen. War mal andersherum, spricht aber nichts dagegen. Andererseits ist nicht jede Universitätsstadt eine Schwarmstadt geworden. Was da genau zusammenkommen muss, ist nicht leicht zu sagen. Eine regionale Verteilung ist kaum auszumachen. Schwarmstädte sind in Nord, Ost, Süd und West zu finden. Auch die Größe ist nur ein Faktor unter anderen, oder was macht Halle an der Saale in dieser Liste?

Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf, Dresden und Leipzig. Darauf wäre ich gerade noch allein gekommen. Aber was macht Halle da? Oder Bamberg? Und viele Großstädte im Ruhrgebiet zum Beispiel sind nicht vertreten, trotz Universität. Mit den Jobs, so ist weiter bei Rohrbeck zu lesen, hat das wenig zu tun. In Siegen gibt es eine Uni, neue Jobs, aber keinen Schwarm. Ich glaube nun einfach, dass die schöne Altstadt die Menschen anzieht. Bamberg, wo sonst will man leben?! Ästhetik zählt halt mehr als Ökonomie! Weiß ja jeder.

Aber was ist mit Regio? Kann man von Halle aus die Welt retten? Wenn alle aus der Provinz fliehen? Habt ihr nicht lauter Facebook-Freunde, ihr jungen Menschen? Könntet ihr nicht überall leben? Ihr braucht doch nur das Internet und habt alles, was ihr euch wünscht, am Schreibtisch. Wozu nach Bamberg ziehen, schaut euch die Bilder am Netz an. Das Rathaus wurde millionenfach fotografiert, ihr werdet es nicht besser machen, wenn ihr es nochmal versucht.

Ganz gut getroffen: Das Bamberger Rathaus. Bild von Nawi112 auf Wikimedia.

Diese Dialektik finde ich irgendwie beruhigend. Es wäre anzunehmen, dass die digitale Generation, als Selbstversorger auf dem Bauernhof lebend, nur noch über das Netz kommuniziert. Und genau so etwas passiert auch. Und es passiert genau das Gegenteil, die Zusammenrottung der Gleichgesinnten in der Stadt.

Und wo bleibt der Spießbürger? Ist er in der Provinz zurückgeblieben oder ist er nur noch unter Gleichgesinnten in der Schwarmstadt ein gleichgeschaltetes Etwas? Weder noch und sowohl als auch lautet mein vorläufiges Fazit.

Dienstag, 23. September 2014

Sich einmal alt fühlen: Der Bundesvision Song Contest


Ich schreibe ja seit längerem auch bei der Blogumschau. Dort hat mein Freund und Kollege, Jochen Walter, kürzlich einen Artikel über das schottische Referendum veröffentlicht. (Ja, ja, das ist die Aufforderung, mal wieder auf die Blogumschau zu klicken.) Alle möglichen Völker und Völkchen, so konnte ich da lesen, haben derzeit Abspaltungsgedanken. 

Katalonien, klar. Im katalonischen Hinterland passierte es mir im Urlaub, dass die Betreiber einer Pension sich nur sehr widerwillig überhaupt darauf einließen, spanisch mit mir zu reden. Das ist Fremdsprache dort. Sie ließen sich dann endlich darauf ein. Spanisch verstehe ich zwar genauso wenig wie katalonisch, aber ich hatte immerhin das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Und die Flandern, klar, die auch. Wer will schon zu Belgien gehören. Und die Bayern trennen sich von Deutschland, während sich Franken von Bayern abspaltet, allerdings Oberfranken einen eigenen Staat gründet, der dann Wagneriana genannt wird und von Bayreuth aus regiert wird. Nur mein Hirngespinst? In Mittelfranken gibt es sogar ein Städtchen, das Wolframs-Eschenbach heißt. It’s the Franken, stupid!

Regionalismus ist angesagt. Natürlich, wir haben, aufmerksam und verantwortungsbewusst wie wir sind, oft genug gelesen: Die Rettung der Welt wird, wenn überhaupt, nur durch den Einkauf regionaler Produkte möglich sein. Biorindfleisch aus Ungarn? Nein danke, Rindviecher nur aus der Nachbarschaft. Denn Regio sticht Bio.

Voll auf diesem Regionalzug sitzt Stefan Raab mit seinem Bundesvision Song Contest, den ich am Samstag ein wenig – nicht von Anfang an und nicht bis zum Ende – verfolgt habe. Da treten Interpreten aus den Bundesländern gegeneinander an, ganz nach dem Vorbild des großen Eurovision Song Contest. Nur auf Länderebene. Denn wir wissen, die Rettung der guten Musik wird nur durch das Hören regionaler Musik möglich sein.

Besonders fiel mir auf, wie sehr die Rose wieder als zentrales Symbol für die Liebe popfähig ist. Immerhin 20.000 Rosen bei Sierra Kid. Weil 20.000 Rosen sind 20.000 Rosen sind 20.000 Rosen. Das nennt man Evidenz. Teesy sang von „Keine Rosen“, denn das Liebeslied kommt heutzutage ohne die immerhin pfiffig verneinte Rose keinesfalls aus.

Wie alt man sich da plötzlich fühlt, wenn man sagen möchte: Was singt ihr von Rosen? Habt ihr echt gar nichts, das irgendwie, äh, cooler wäre? Einem jüngeren Menschen, dieser Sierra Kid ist gerade 17 Jahre alt, empfehlen, er könnte vielleicht etwas cooler oder rebellischer sein, bitteschön. Das ist alt, sehr alt. Ich verwerfe diesen Gedanken augenblicklich. Rosen also, na gut, meinetwegen. Die Grenze zwischen Pop und Kitsch ist nicht gut überwacht. Da gilt ein Schengener Abkommen.

Es bleiben für mich Verdachtsmomente: Ich muss meinen Begriff der Spießigkeit überdenken. Sierra Kid und Teesy spießiger als Maxim, der die 30 immerhin schon überschritten hat? Und sehr viel spießiger als die Inglebirds mit ihrem Rap, der nach den frühen Neunzigern klingt? Kann das sein?

Gewonnen hat übrigens die Band Revolverheld, die zwar keine Rose in petto hatte, aber im Lied die Stadt verlässt, Berlin, Hamburg oder Köln, weil es da so voll und echt ziemlich regnerisch ist, und ganz in der Provinz ankommt. Denn Regio sticht Rose.

Dienstag, 16. September 2014

Expressionisten und Spießbürger: Theodor Haecker


Der Spießbürger ist kein Extremist. Und Bernd Lucke sah wirklich ganz nett aus, als er sich jetzt im Fernsehen immer wieder freuen durfte. Die anderen von der AfD auch. Herzliches Lachen und ein bescheidenes „wir müssen nun ganz viel lernen“. Das wirkt nicht bedrohlich. Für die CDU vielleicht oder für diese andere Partei, die es mal gab. Ich kann mich kaum erinnern, Spaßpartei hieß die, glaube ich, damals.

Ganz einfache Zuordnungen lassen sich allerdings nicht treffen. Hier links, dort rechts und dazwischen die Spießer. Das Gefüge ist komplizierter geworden. Nein, Unsinn, es war immer schon komplizierter. Das Bedauerliche aller historischen Phänomene ist, dass sie kompliziert werden, wenn man einmal genau hinschaut. Über den Expressionismus und das Spießbürgertum habe ich hier schon mehrfach geschrieben (1, 2, 3, 4). Nun wieder ein nahezu vergessener Schreiber, der ebenfalls dem Expressionismus zuzuordnen ist: Theodor Haecker, der zunächst bekannt wurde, weil er für die (ehemals berühmte) österreichische expressionistische Zeitschrift „Der Brenner“ arbeitete.

Seine Position ist mit den gängigen Schemata schlecht zu erfassen: Links, rechts, mittig, eingeklemmt im Dachgeschoss? Oder liberal, konservativ, sozialistisch? Das meiste ganz sicher nicht. Schaut man sich an, wie Haecker über die Sozialisten und die Liberalen schreibt, sieht man einen Konservativen vor sich, meinetwegen einen Lucke mit Wutanfall, der sich aber wegen dieser Schärfe wieder NPD-Nähe vorwerfen lassen müsste. 1914 schreibt Theodor Hacker:

„Das aktive Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa in der Form der Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause, in Parlamentarismus, Wählerschaft, Bank- und Geldwirtschaft, lauter anonymen, vollkommen verantwortungslosen, nicht faßbaren Massenmächten. Ich werde aber von dem Glauben nicht lassen, daß der blutrünstigste Tyrann noch leichter zu jenem geistigen Verantwortungsgefühl gelangen kann, ohne das keiner herrschen darf, leichter, sage ich, als die von Verleger, Abonnenten und Inserenten abhängigen Redaktionskollegien in Massenauflagen erscheinender sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften [...], leichter auch als Bankiers und Mitglieder anonymer Aktien-Gesellschaften, die für hohe Dividenden Werte der Kultur ohne ein Achselzucken hingeben.“

Der „blutrünstigste Tyrann“ kam dann ja knappe zwanzig Jahre später an die Macht. Da bezog Haecker dann Stellung und beteiligte sich am Widerstand. Im Umfeld der „Weißen Rose“ kann man seinen Namen manchmal noch lesen. Also keine Angst, die NPD wird Haecker nicht vereinnahmen wollen.

Jedenfalls, die sozialistischen Tendenzen, die um den Ersten Weltkrieg so eine große Wirkung entfalteten, fand Haecker eher nicht so anziehend:

„Wer wäre auch imstande diese Klimax zu erfinden: Moses, Christus, Marx. Wer glaubt mir denn noch nach 100 Jahren, daß sie in der „führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands“ stand und nicht in einem Krankenbericht aus einem Irrenhaus oder einer Idiotenanstalt? Progressive Paralyse oder dementia praecox.“

Das ist jetzt genau 100 Jahre her. Aber Haecker irrte sich, Marx wird gerade wieder zu einem Verkaufsschlager. Aber welchen Moses meinte er um Himmels Willen?

Ein Konservativer ist Haecker also: antikommunistisch, antiliberal. Und gleichzeitig antibürgerlich. Über den damals gefeierten, bürgerlichen Thomas Mann schreibt er:

„Die ganze Tragikomik der ästhetischen Verwirrungen wurde uns durch die dankenswert naive Beichte eines gelesenen Schriftstellers enthüllt. Es war an sich gewiß uninteressant, daß einer den „Tod in Venedig“ herausgab, denn solche Stilübungen werden in der Literatur zu allen Zeiten fabriziert, und es ist doch nur, bürgerlich gesprochen, nett und erbaulich, daß einer all das, zu dessen Erlernung er einst im Gymnasium zu genial war, in seinen vierziger Jahren durch zähen Fleiß glatt und akkurat so wie ein Gymnasiast wieder einholen kann. Von besagtem Autor galt auch immer, was der junge Kierkegaard von ähnlichen Epikern seiner Zeit sagte: ihre Bücher sind nicht Produktionen, sondern Amputationen.“

„Der Brenner“ druckte avancierte Lyrik, sehr viel vom genialen Georg Trakl zum Beispiel. Konservatismus in einzelnen Bereichen bedeutet also nicht, dass die spießbürgerliche Beschränktheit einfach abgenickt werden muss. Außerdem hat die Geschichte Haecker ja Recht gegeben: Thomas Mann ist nur noch wenigen Germanisten bekannt, „Der Brenner“ hingegen liegt heute an jedem gut sortierten Bahnhofskiosk. – Und manchmal liegt dann eben die Geschichte falsch.


Die Zitate stammen alle aus Texten Theodor Haeckers, die 1914 bis 1915 im Brenner abgedruckt wurden.

Dienstag, 9. September 2014

AfD-Chef Bernd Lucke: Nur ein Spießer?


Verschiedenen Parteien, die sich im Laufe der letzten 50 Jahre neu gründeten, wurde einmal Extremismus vorgeworfen. Den Grünen natürlich. Eine Partei, die heute ihre Wahlslogans auf Plakate der LBS drucken könnte, galt einmal als extrem. Zu links, zu alternativ: Hausbesetzer statt Häuslebauer. So ein Extremismusvorwurf ist ärgerlich, aber, naja, auch ziemlich cool. Die Partei der Grünen hat mittlerweile den Lebenslauf eines 68ers. Idealistisch in der Jugend, dann häuslich geworden, beim Daimler angefangen und jetzt schaut man auf diese Jugend zurück, schämt sich öffentlich ein bisschen, aber klopft sich innerparteilich auf die Schulter. Wir wollten mal was. Echt.

Ein Extremismusvorwurf gegen die AfD ist gar nicht cool. Denn eine konservative Partei, der man Extremismus vorwirft, kann nur rechtsradikal sein. Das ist blöd, saublöd. Von Matthias Matussek ist in der WELT gerade ein bemerkenswertes Porträt von Bernd Lucke erschienen. Matussek übertreibt gerne, er provoziert auch mal. In seinem Lucke-Porträt provoziert er bis in die Details, wenn er behauptet, Bernd Lucke sehe aus wie schlappe 34 Jahre alt. Das ist Unsinn, aber vielleicht will Matussek den Männern knapp über 30 nur den Spiegel vorhalten. So alt seht ihr aus. Bernd Lucke – das seid ihr.

Bernd Lucke: Wird ständig auf 34 Jahre geschätzt. Bild von WDKrause auf Wikimedia.

Ich messe dieser ganz und gar schlechten Einschätzung Matusseks zu viel Bedeutung bei. Aber es sind die Details die Matusseks Text so spannend machen. Er schreibt ein Porträt, das die Vorwürfe des Rechtsradikalismus präsent hält und sie beiläufig entkräftet. Ein Betrunkener, Mettbrötchen essend, ruft zu der Gruppe um Lucke und Matussek, die Wahlkampf in Thüringen betreibt, sie seien alle Nazis. Matussek, nicht Lucke, antwortet, wo denn Nazis seien, da stehe doch AfD auf den Plakaten. Also: Nur die Betrunkenen rufen „Nazis!“.

Lucke, so wird gezeigt, hat mit Rechtsradikalismus nichts am Hut, er ist bloß der letzte echte Spießbürger. Und Spießbürger, das soll in Zeiten von Merkels CDU harmlos klingen. Spießer sind etwas zu langweilig, etwas zu ernsthaft, zu genau, der ist sogar Wirtschaftswissenschaftler, dieser Lucke, da rechnet der immer ganz genau nach, der rechnet sogar noch alles in Mark um. Wirtschaftswissenschaftler sind allerdings nicht unbedingt harmlos, wie Nassim N. Taleb dargelegt hat, und Spießbürger auch nicht.

„Entartet“ habe Lucke einmal das parlamentarische System genannt. Matussek fällt über diese Äußerung Luckes her – allerdings ironisch. „Entartet. Ertappt.“ Ach, was soll es auch, sind doch bloß Worte, die rutschen raus, kannste gar nicht bremsen. Das ist wie über Eis laufen oder auf ne Bananenschale treten.

Und es stimmt. Es ist eine ungeschickte Lappalie. Gibt schlimmeres, wie zum Beispiel: Volker Kauder, ein anderer, der vielleicht auch bloß Spießbürger sein will, sagte gerade angesichts dessen, dass zahlreiche Flüchtlinge nach Europa und also auch nach Deutschland zu fliehen versuchen: „Ja, ich finde schon, dass wir weitere Flüchtlinge aufnehmen müssen, wenn sie es bis zu uns schaffen.“ Wenn sie es bis zu uns schaffen. Ein harmloser Satz, da zuckt der Spießbürger nicht einmal mit der Wimper. Solln wir se etwa noch first-class rüberfliegen, die Flüchtlinge, oder was?!

Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Matussek, aber da möchte ich mich manchmal gerne betrinken, Mettbrötchen essen und „Nazis!“ rufen. 

Das Zitat ist noch in der ZDF-Mediathek zu hören. Heute Journal, Sendung vom 7. September, etwa bei Minute 10:30.

Montag, 1. September 2014

Nochmal Siedlungen, nochmal Spießbürger


Ich bin kein Vegetarier. Schon bevor überall Fleischfresser nach Entschuldigungen suchten, stand für mich fest: Leben ist sowieso Zerstörung. Es kommt auf das Maß an. Geringes Tierleiden finde ich wünschenswert, ein gutes Steak – auch wünschenswert. Wer keine Tiere essen mag, braucht das nicht. Jedenfalls werfe ich nicht mit Frikadellen nach Vegetariern.

Der Spießbürger hätte gern dort ein Gesetz, wo seine Toleranz aufhört. Das stört mich an den Siedlungen mit Autoverbot. Obwohl ich gerne in vielen Städten, die ich besucht habe, größere autofreie Bereiche ausweisen würde und 30-Zonen in den gesamten Innenstädten. Das gefiele mir. Das sind klare Verbote, und sie sind trotzdem etwas anderes. Sie verschärfen eine Regel, aber sie regeln nicht plötzlich in meinen Alltag hinein, wo ich bis eben noch ohne Gesetz bestens auskam. Das allgemeine Tempolimit auf Autobahnen ist deshalb davon zu unterscheiden. Noch gibt es Strecken, auf denen jeder seinen 106er Peugeot bis zum Anschlag treten darf, mit einem allgemeinen Tempolimit fällt ein (sehr kleiner) „rechtsfreier Raum“ weg.

Daraus lässt sich nun wiederum keine Regel ableiten. Manchmal führen strengere und neue Gesetze zu mehr Freiheit. Siedlungen, Dörfer und Kleinstädte am Mittelrhein beispielsweise: Am Mittelrhein, da wo Hase und Loreley sich „Gute Nacht“ sagen, fahren zu viele Züge. Bis zu 600 Züge fahren dort am Tag durch das Tal, wenn diese Informationen stimmen. Das Sehnsuchtstal der Deutschen wird gebraucht, um Dinge in Zügen hindurchzufahren. Je strenger die Gesetze hier eingriffen, desto besser, würde ich meinen. Historische Dampflok und Draisine – das sollte doch reichen.

Bingen am Rhein: ein Blick auf die Weinberge und den Fluss. Foto von Marcin Szala auf Wikimedia.

Aber wie gesagt, es kommt auf das Maß an. Ich schrieb: Der Spießbürger hätte gern dort ein Gesetz, wo seine Toleranz aufhört. Das stimmt so ebenfalls nicht. Am Ender vieler Toleranzen finden sich – glücklicherweise – sehr viele Gesetze. Niemand will, dass der eigene Treppenaufgang als Hundeklo benutzt wird. Und ich bin beispielsweise nicht dafür, dass in Hallenbädern nackt gebadet werden darf. Vieles, was halbwegs in Badesachen verpackt ist, möchte ich gar nicht sehen. Dieses zweite Beispiel trifft es besser, denn mir geschähe nichts, wenn nun alle – außer mir – in Hallenbädern nackt badeten. Meinen Treppenaufgang müsste ich sauber machen, im Hallenbad bliebe ich verschont. Ich bin daran nicht gewöhnt, und derzeit möchte ich mich nicht daran gewöhnen wollen.

Der aggressive Neo-Spießbürger wäre in diesem Fall nicht der Traditionalist, der Konservative, der auf seine Badehose nicht verzichten mag. Er ist derjenige, der seine Lebensweise – man darf alles anziehen, nur keine Badehose – per Gesetz durchdrücken möchte.

Zurück zu den Siedlungen. Ich bin zum Beispiel sehr für Regelungen, wie in einer Siedlung gebaut werden darf. Hier zeigt sich ein großes Dilemma: Gäbe es mehr Menschen, die stilsicher, mit einem Blick für die bauliche Umgebung ihr Häuschen planten, dann wären die fein ziselierten Gesetze, in denen beispielsweise festgelegt ist, dass die einzelnen Bretter eines Bretterzauns mindestens 8cm Abstand zueinander wahren müssen, gar nicht nötig. Aber sie sind nötig. Bedauerlich nur, dass oft die Stadtplaner ebenfalls wenig Stilsicherheit zeigen, und bei allem Streit über 7 oder 8cm Lattenabstand zum Beispiel vergessen, dass der Hausabstand noch mehr zum ästhetischen Gesamteindruck einer Siedlung beitragen könnte.

Ich bleibe also skeptisch. Klar, es gibt in Neubausiedlungen großartige Häuser. Aber schöne Siedlungen? Das sagt die Google-Bildersuche.