Dienstag, 22. Dezember 2015

Weihnachtswünsche


Als Kind liebte ich die Tage vor Weihnachten. Die Wünsche wurden aus Katalogen und Zeitschriften herausgeschnitten, auf einem Papier sorgfältig collagiert und dieser bei den Eltern, mit freundlicher Bitte um Weitergabe an den Weihnachtsmann, eingereicht. Stilechte Wünsche selbstverständlich: Ein Abonnement des YPS-Magazins, eine Darda-Bahn, He-Man-Figuren und ein Kettcar. Nein, Unsinn, auch damals vor allem LEGO oder irgendetwas, das leuchtet, knattert und einer Waffe ähnlich sieht.

Diese Weihnachtswünsche waren jedenfalls äußerst lehrreich. Man lernte auszuwählen, zu warten, sich zu sehnen und schließlich die Enttäuschung. Die offensichtliche Enttäuschung, das Gewünschte nicht zu bekommen, ist dabei leicht zu verstehen und zu akzeptieren. Viel schwieriger, wenn der Wunsch in Erfüllung ging und das gewünschte LEGO-Piratenschiff genauso war, wie im Katalog beschrieben, nur an die Phantasie, die wochenlang schon Kaperfahrten unternommen hatte, reichte es leider nicht heran. Die Wirklichkeit ist immer eine Enttäuschung, und der kindliche Satz – ich wünsche mir nur noch dieses eine Piratenschiff, dann wünsche ich mir nie wieder etwas – entspricht nicht vollständig der Lebenserfahrung der meisten Eltern.

Unser Leben mit Wunsch, Sehnsucht und Enttäuschung wird jedenfalls gerade gründlich optimiert. Dass Werbung die Wünsche erzeugen möchte, die wir uns dann von den beworbenen Produkten erfüllen lassen, ist zum einen so irgendwie altbekannt, zum anderen auch viel zu einseitig. Wenn ich nächtelang den LEGO-Katalog studierte, konnte ich diese Werbung kreativ nutzen und mich gleichzeitig schlauer fühlen als die Marketingabteilung, wenn ich mir stattdessen eine Eisenbahn wünschte. Nun haben die Marketingabteilungen dazugelernt, wie man zum Beispiel in dem Buch von Markus Morgenroth „Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!“ nachlesen kann. Das meiste, was er darstellt, ist bekannt, und vieles auch in der dargestellten Tiefe bekannt. Allerdings ist es in dieser Fülle ein beeindruckendes Bild der großen Datenkraken, das Morgenroth zeichnet. Nur die Fähigkeit, einmal zurückzutreten, von seiner beeindruckenden Sammlung vom Wissen über die Wissenssammler, und zu theoretisieren, besitzt Morgenroth bedauerlicherweise nicht. Denn vor allem würde  man ja gerne erfahren, was das mit dem Menschen macht, wenn er so vermessen wird.

Vor wenigen Jahren noch mussten die Wichtel der Weihnachtsmanufaktur in Himmelspfort jedenfalls in jedem Sommer ein Markt- und Meinungsforschungsinstitut beauftragen, um nicht versehentlich zu viele Holzeisenbahnen herzustellen, für die sich am Ende niemand interessiert. Heute geschieht die Marktforschung direkt, während wir uns im Netz bewegen, ganz ohne unser Einverständnis werden wir ausgewertet. Die Köchin Sarah Wiener hatte jüngst den Blick darauf gelenkt, wie großartig eine Marketingkampagne aus lange belächeltem Fleischersatz ein neuen Trend schaffen kann: Die gewöhnliche Cervelatwurst muss man ja mittlerweile im Supermarkt, versteckt hinter den Regalen mit Sojasteaks und Blaubeerblutwurstersatz, suchen.

Man kann also auch nicht einfach aus dem System heraustreten – was ebenfalls nicht die neueste Erkenntnis ist, wie mir scheint. Neu ist allerdings, dass dies nicht theoretisch für „alle“ gilt, sondern für „jeden“. Dass der Weihnachtsmann sich mit so einem absoluten, totalitären Marketing gemein macht, mag ich kaum glauben, und blättere noch einmal durch die LEGO-Kataloge meiner Kindheit, die ich aufbewahrt habe, und die in einem besseren Zustand sind als die Spielzeuge selbst.

Markus Morgenroth: "Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!" Über die wahre Macht der Datensammler, München: Droemer 2014.

Montag, 9. November 2015

Deutschland, Deutschland

Fußball ist großartig, großartigst, größtartigst. Man kann überhaupt nur in supersten Superlativen über Fußball sprechen. Dass da jetzt Geld geflossen sein soll, wo es nicht fließen sollte – aber so ist das mit Flüssigkeiten eben, ob nun Geld fließt oder der Flüchtlingsstrom, die fließen nun mal –, pfff, das interessiert mich nicht. Ich lass mir mein Sommermärchen nicht verderben von irgendwelchen schwärzlichen Kassen. Ich hab meine Deutschlandfahne selbst bezahlt. Und die Quittung habe ich hier abgelegt, besondere Ausgaben.

Fußball ist die neue Politik. Lehrte man früher in Frankfurt politische Theorie, lehrt man heute Fußball-Philosophie. Man geht mit „Nietzsche ins Stadion“, lernt vor dem Spiel systemische Aspekte des Fußballs und vertieft sich in die Motivationspsychologie in der Kabine. Sollen die doch lieber Fußball spielen, statt sich in echt den Arsch vollzubomben. Auch der Bombenschuss ist harmlos. Alles harmlos. Da dürfen ja seit zehn Jahren wieder deutsche Fahnen wehen, weil hier gehört er hin, der Patriotismus, wo er nichts tun kann, wo im allerschlimmsten Fall der Fälle nach dem Länderspiel der provokant am Baguette knuspernde Franzose eine Bierflasche an den Kopf bekommt, aber dann stehen da schon Ordner, die trösten. Wer samstags ab halb vier anderthalb Stunden lang Fahnen schwenkt, Bier säuft und „Borussia, Borussia“ brüllt, ist am Montag Abend noch viel zu heiser, wenn die PEGIDA-Kundgebung stattfindet. Fußball ist großartig.

Ich durfte nun das Fußball-Museum in Dortmund besuchen. Fußball ist Kunst, ist Leben, ist Philosophie, ist Religion. Ein Museum ist absolut notwendig, um sich über den entscheidenden Teil deutscher Geschichte gesellschaftlich verständigen zu können. Und zum Glück ist Fußball so harmlos, musste ich schon zum ersten Mal denken, als ich am Spind stehend – ich verstaute gerade Kutte, Fahne und Sechserträger – die deutsche Nationalhymne hörte. 
 
So häufig habe ich überhaupt selten an einem einzigen Tag Teile der deutschen Nationalhymne vernommen, gegen die ich, das möchte ich festhalten, nichts einzuwenden habe. Es fiel mir dennoch auf. 
 
Auch gegen pathetische Musik und große Momente auf großen Leinwänden habe ich nichts einzuwenden. Die deutsche Geschichte muss wohl in dieser Größe präsentiert werden. Und ich gebe gerne zu, das ich für diese Stimmungen allzu empfänglich bin, Schweinsteigers Blut im Endspiel, als habe er für uns gelitten. 
 
Schön wäre es gewesen, wenn das Museum nach diesen Bedeutungen des Fußballs in irgendeiner Weise gefragt hätte, statt sie noch einmal zu inszenieren. Schön wäre es auch gewesen, die winzigen problematischen Punkte, eigentlich Pünktchen oder Pünktelchen, in angemessener Weise darzustellen: War da was in den späten 1930er Jahren? Natürlich, haben wir auf einer kleinen Tafel hinten an der Wand, steht alles drauf, Hitler, Nationalsozialismus, einfach alles. Oder man zeigt einfach die Trophäen, die Helden, die großen Momente in unseren vier großen Jahren, während im Hintergrund die Nationalhymne dudelt. So simpel kann Museum sein. 
 
Fast hatte ich den Eindruck, es wird in Zukunft ausreichen, die ankommenden syrischen Flüchtlinge jeweils in einen Deutschkurs und in unser Fußballmuseum zu stecken. Mehr deutsche Integration geht überhaupt nicht.

Schlecht gemacht ist das Museum wirklich nicht, das kann ich nicht sagen. Aber dass ich mir am Abend nach dem Besuch die deutsche Verdrießlichkeit zurückwünschte, das fand ich überraschend.

Freitag, 9. Oktober 2015

Meine Meinung zur Meinung

Niklas Luhmann meinte, der Zweck der Kommunikation ist ihre Fortsetzung. Wer das nicht glaubt und noch immer irrwitzigerweise beispielsweise den Zweck eines Arguments darin sieht, dass es überzeugt, der sehe sich im Netz um. Das Internet wurde einzig mit dem Ziel gebaut, Luhmanns Theorie der Kommunikation zu beweisen. Und es beweist.

Ich bin vielleicht gerade etwas Blogumschau-müde, das Problem fiel uns allerdings immer wieder auf und mal konnten wir etwas dagegen tun, mal gelang das nicht: Ich schrieb zum Beispiel über die Berichterstattung über die Fußballweltmeisterschaft 2014. Also genauer, das eigentliche Ereignis: Da spielten echte Männer, kleinere Jungens und ein paar Werbefiguren Fußball und ein paar Brasilianerinnen tanzten im Hintergrund Samba, was sie offenbar immer tun. Darüber berichteten Journalisten und Reporter, die vor Ort Fußball und Samba beobachteten. Über die Berichterstattung berichteten Blogger, die sich über zu viel Samba und zu wenig Fußball ärgerten. Über diese Blogger berichtete die Blogumschau, die von Fußballer- und Tänzerinnenschweiß drei Meta und sehr viele Kilometer entfernt war.

Die Position eines Beobachters der Beobachter, die kann ja auch originell sein. Sie ist aber mittlerweile die typischste Internetsprecherposition. Der allergewöhnlichste Fall, am Beispiel des literarischen Quartetts: Autoren schreiben Bücher über die im Fernsehen diskutiert wird. Die Fernsehdiskussion wird in den Zeitungen breit besprochen. In den Blogs wird wahlweise die Fernsehsendung oder die Fernsehsendungsberichterstattung besprochen. Und die Blogartikel werden wiederum kommentiert. Und der Klassiker der Kommentare lautet dann ungefähr so: „Ranicki ist sowieso unerreichbar, von Literatur haben die in den klassischen Medien gar keine Ahnung mehr. Das ist alles nur noch Marketing. Ich habe die Sendung deshalb gar nicht erst gesehen!“

Es fällt nicht einmal mehr auf, dass die Kommentare keinen Bezug zum eigentlichen Ereignis haben, also zur Fernsehsendung (die Bücher hat selbstverständlich ohnehin niemand gelesen, der sich über die Sendung auslässt). Im Laufe der Kommentare der Kommentare der Kommentare hat sich der Gegenstand längst aufgelöst, es bleibt ein bisschen Meinung zurück, die die Kommunikationsdampfmaschine am Laufen hält.

Oder Amazon: Ein Buch, eine Rezension zum Buch, ein Kommentar zur Rezension zum Buch, eine Bewertung des Kommentars zur Rezension zum Buch. Neben Luhmann wusste Kafka natürlich auch, was da mit dem Internet auf uns zukommt. Im „Proceß“ führt er vor, wie eine Geschichte sich auflöst in ihre Kommentare. Medienkritik, so scheint es mir manchmal seitdem die Kritik an der Ukraine-Berichterstattung abgeflaut ist, Medienkritik ist das langweiligste, was man überhaupt betreiben kann. Ja, auch dieser Text fällt dann selbstverständlich darunter: redundant, langweilig, überflüssig. Wenn überall zu Kommentar und Spritzgebäck geladen wird, ist die Metahaltung keine Kunst mehr. Schweigen müsste man können.


Zu Luhmann vor allem: Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?, in: Soziologische Aufklärung Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, 3. Aufl., Wiesbaden 2008.
Und Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.



Dienstag, 29. September 2015

Das Überstflüssige

Die Beobachtung ist nicht besonders originell: Im Internet kann jeder seinen Senf zu jedem Würstchen dazugeben. Alle Dinge, so scheint es, sinken im Netz zum reinen Gesprächsanlass herab. Sie sind nur noch dafür da, eine Meinung äußern zu können. Und wenn ich solche Aussagen hier nun gleich wiederhole, wiederhole ich das Unnötige, das Überflüssige, das Un-un-unbrauchbare. 
 
Ich lese Thomas Mann nicht gerne. Den „Zauberberg“ zum Beispiel mag ich nicht. In Gesprächen habe ich das auch dem einen oder anderen mitgeteilt – ob das jemanden interessiert hat, weiß ich nicht, die gerunzelten Stirnen sind vergessen. Darüber schreiben würde ich allerdings nicht, wenn ich es nicht gerade getan hätte. Meine persönliche kleine Antipathie, wofür soll die gut sein? Mich hat auch keiner danach gefragt. 
 
Ach so, stimmt nicht, denn Amazon fragt mich. Da könnte ich also auf die Idee kommen, dass das irgendjemanden interessiert, was ich zu einem Klassiker der Weltliteratur meine – in dem Wissen, dass meine Meinung so jedenfalls nur eine Meinung ist und ich vielleicht auch nicht der Literaturkritik letzten Schluss über Manns Romane äußere, wenn ich rachegewillt, nach einem langweiligen Abend, der mit seinem Buch endete, Herrn Mann mit einem Sternchen abstrafe.

Oder mit „Loewendoros“ Worten: Was am "Zauberberg" aber verzaubern soll, kann ich nicht verstehen. Und wenn ich mich mit einem Buch rumquäle, wo es soviele Bücher gibt, die lesenswert sind, ist mir meine Zeit dann doch zu schade, um sie mit Hans Castorps Fieberkurve zu verbringen.
Ich hoffe nur, ich komme deshalb nicht ins Literaturfegefeuer!“

Über das „Literaturfegefeuer“ weiß ich nichts, aber wenn hier schon mal die geistlichen Autoritäten aufgerufen sind, zitiere ich gerne Jesus von Nazareth: „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.“ Da kann man ja nur hoffen, dass anonyme Äußerungen im Netz nicht gemeint sind.

Denn was schreibt Kaddi Kattubi über Kafkas „Proceß“:
Zuerst dachte ich noch, es wäre doch genial, wenn Kafka dem Mann Josef K. am Ende eine Paranoia anhängt und sich alles nur aufgrund des Verfolgungswahns und geistiger Umnachtung ausgedacht hätte.
Dem war aber leider nicht so.“

Ahh, so hätte es also was werden können mit dem literarischen Durchbruch. Danke für den Hinweis, aber als hätte Kafka geahnt, dass der „Proceß“ nichts taugte, wollte er ihn doch eigentlich nie veröffentlichen, nicht wahr, Mazda: 
 
Lächerlich finde ich, dass viele Stellen so verwirrend sind, dass sie keiner eindeutig interpretieren kann. Teilweise fragt man sich, ob überhaupt der Autor selbst wusste, was er damit sagen will.

Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach,die Richtige.“

Andere Leser dagegen können dem „Proceß“ vielleicht noch etwas abgewinnen, aber Kafkas „Schloß“? Nun ja, nun ja, die durchaus differenzierte Ansicht von Da..Ko:

Alles in allem ein gutes Werk, dass man empfehlen kann, doch Kafka in "Höchstform" ist es leider nicht.“

Und wirklich jeder ist mal dran. Es gibt eine insgesamt gerechte Verteilung der überflüssigen, dummdreisten Urteile über alle Autoren von Rang. Tiecks „Hexensabbat“, das ich hier im Blog gerade so begeistert erwähnte, kann M. Stier leider nichts abgewinnen, obwohl er es sogar kostenlos auf seinem Kindle lesen durfte:

ich habe das Buch nach einer halben Seite vom Kindle geschmissen. Die Sätze sind teilweise eine halbe Seite lang und schwer nachzuvollziehen. Klar, dass das Buch kostenlos zum Runterladen ist!!!“

Dieses alte Zeug aber auch. Da ist man schon einmal bereit sich auf Texte, oder wie das heißt, einzulassen, ohne Bildchen, ohne Liedchen, ohne Drumherumchen. Und dann machen die es einem so schwierig, bekommen die einfachsten Handlungsmotivationen nicht auf die Kette, wie ein Kunde über den „Sandmann“ weiß:

der sandmann ist eine kurzgeschichte, die mich nicht vom hocker gerissen hat. nathanael beginnt leider zu spinnen und sich in eine holzpuppe zu verlieben, anstatt ein glückliches leben mit clara zu verbringen.“

Und natürlich ist es ein Missverständnis zu denken, solche Rezensionen sagten irgendetwas über die Literatur aus, über manches vielleicht, aber nicht über die Literatur, die hält nur her, als Gesprächsanlass, Druckablass, so jedenfalls verstehe ich, um damit zu schließen, sinex85: 

Nathan der Weise, ist wieder eines dieser Bücher, die ich persönlich niemals aus freien Stücken lesen würde. Es ist eines jener Werke, die man in meinen Augen missbraucht um angehende Abiturienten zu quälen :-( und ihnen die Lust am Lesen zu verderben.“
 
Nein, ich hatte ich gar nicht gefragt.

Donnerstag, 17. September 2015

Der Moment des Kippens

In manchen Momenten kann ich Politiker beneiden: den beruhigenden Blick auf Bundestagsdiäten beispielsweise, den stelle ich mir schön vor. Oder auch ein Forschungszentrum einzuweihen, am besten etwas löbliches: Erforschung jüdischer Gemeinden in Deutschland oder so; natürlich nicht eine umstrittene Forschung, wie Primaten nacheinander Shampoos und Hirnstöße verabreichen. Da würde ich dann meinen Altmaier schicken. Aber da gibt es durchaus schöne Momente in einem Politikerleben, wie ich es mir vorstelle.

In diesen Tagen allerdings möchte ich kein Politiker sein, da bin ich froh, weit weg von jeder Entscheidung zu sein, nichts mit Asylpolitik, Innerer Sicherheit, EU-Politik zu tun haben. Grenzkontrollen wurden eingeführt – aber was bedeutet das? Die Tragweite einzelner Entscheidungen ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Rückt Deutschland jetzt nach rechts, links, in die Mitte, zwischen die Stühle oder bleibt es auf dem Sonnendeck? Ein „Welcome“ im Bus treibt uns die Tränen in die Augen, brennende Flüchtlingsheime könnten das auch. Es geschieht zu viel in zu kurzer Zeit, das wir kaum einordnen können, das uns „bewegt“ und zur Solidarität treibt, aber dessen Folgen wir nicht verstehen.

Und mit einzelnen Meldungen werden immer wieder die großen Geschichten angerufen: Europa zerbricht! Rechtsradikalisten erstarken! Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Wer weiß denn schon, was passieren wird? Am Ende das Jüngste Gericht, aber bis dahin fließt noch viel Wasser am alten Arsch, dem Kölner Dom, vorbei. 
 
Ludwig Tieck hat vor 200 Jahren ein grandioses Buch geschrieben, über das man in diesen Tagen trefflich nachdenken kann. Es heißt „Der Hexensabbat“. Das Buch behandelt den historischen Beginn der Hexenprozesse in Europa. Hatte bis dahin die Kirche eher Ketzer auf die Folterbank gespannt, ging man nun dazu über Hexen zu verbrennen. Historische Romane haben das Problem, dass sie von der Geschichtsforschung überholt werden können – und mit Tiecks Roman ist das sicher geschehen. Er hält den intensiven Forschungen zu Hexenprozessen wohl kaum noch Stand. Aber das ist nicht mein Thema, und es schadet dem (damals exzellent recherchierten) Roman auch nicht.
Es geht um den historischen Moment des Kippens, wie man es nennen könnte. Wenn aus einer Gesellschaft, die sich gerade freut, dass die unsinnigen Ketzer-Prozesse vorbei sind, dass Vernunft einkehrt und die Städte mehr Freiheit haben, eine Gesellschaft des Hasses und der Angst wird, die erlebt, dass, wie in einer Lawine aus Ereignissen, genau das Gegenteil des Erhofften geschieht: Menschen werden wegen angeblicher Hexerei angeklagt und verurteilt.

Die Romanlektüre lässt sofort die alte Frage herausspringen: Wie konnte es soweit kommen? Die Schwierigkeit, die der Text großartig veranschaulicht, ist die der Gegenwärtigkeit. Solange alles gut geht, geht alles gut. Ging es immer; bis es eben nicht mehr ging. Denn wenn nicht, dann kann aus dem klugen, zurückhaltenden Abwarten das Verpassen der letzten Chance werden. Oder das beherzte Handeln beschleunigt nur einen fatalen Prozess, der im Gegenteil des Bezweckten mündet. Erst im Nachhinein macht sich der Literaturwissenschaftler dann über den Roman her oder der Historiker über die echten Hexenprozesse, jeder wie er kann und mag. Im „Jetzt“ können wir uns noch die lästige Wartezeit an der Grenze auf dem Weg in den Urlaub als Anekdote erzählen oder den lang geplanten Urlaub am Plattensee als kleines Abenteuer mit Blick auf echten Stacheldraht.

Man hatte in Arras gehört, dass jemand ein paar Städtchen weiter der Hexerei angeklagt wurde – wunderte sich und lachte.

Dienstag, 11. August 2015

Gendereien, Genderismus, großes Binnen-I und Unterstrich

Alfred Werner ging nach draußen, jemand hatte die Balkontür geöffnet, er zog die frische Luft für den Moment der Kaffeetasse vor. Er hatte über die Wiener Moderne und die Psychologie gesprochen, Hofmannsthal-Tagung, da konnte er mit gemütlichem Nicken rechnen. Sein Lieblingsthema traf hier auf Verständnis, war guter wissenschaftlicher Common Sense. Das hatten ihm auch die Blicke der Zuhörer gesagt.

Isabelle Gröblich trat auf ihn zu, Werner ahnte Zuspruch für seinen Vortrag im Allgemeinen und Kritik im Detail, die üblichen wissenschaftlichen Höflichkeiten. Sie sagte: „Danke für den Vortrag, sehr klar und auch überraschende Thesen. Aber dieser Maskulinismus, das hat mich geärgert, immer wieder sagten Sie, die Autoren, die Schriftsteller, die Leser. Da konnte ich irgendwann gar nicht mehr zuhören. Es gab ja auch Frauen in Wien, sogar schon um 1900. Da können Sie jedenfalls von ausgehen.“ „Jaja“, antwortete Werner, „die Frauen waren genauso gemeint, Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser. Dass man jetzt schon mit einer Fußnote jedes Mal die grammatischen Regeln erläutern muss: In die männliche Form sind die Frauen, bitteschön, eingeschlossen.“ „Mich stört diese Ignoranz“, sagte Gröblich, „dieser Sprach-Chauvinismus, Ihre sprachliche Unterdrückung der Frau. Und ich verstehe gar nicht, wie Sie, als jemand, der mit Sprache arbeitet, das nicht einsehen wollen. Die Frau wird geradezu negiert, wenn Sie so reden.“ Werner blieb ruhig: „Falls Sie weiter mit mir über gerechte Sprache diskutieren möchten, bitte ich Sie, mich nicht weiter zu siezen, sondern zu erzen. Sie negieren sonst, das möchte ich festhalten, meine Männlichkeit.“ „Jetzt klingen Sie“, sagte Gröblich, „wie der pensionierte Deutschlehrer, der behauptet, es sei doch Unsinn mit der ungerechten Sprache, denn es heiße doch DIE Männer – und das sage er mir, möchte ich anfügen, DER Frau.“

Diese Begebenheit hat sich selbstverständlich so nicht zugetragen. Auf einer Hofmannsthal-Tagung wird feiner, präziser, gewählter diskutiert. Herr Alfred Werner – PD Dr. im übrigen – musste für eine kleine akute Gereiztheit herhalten, und Frau Isabelle Gröblich, Professorin, ebenso.

Im Freitag wurde vor einer Woche der Schriftsteller Thomas Meinecke interviewt, der nicht als Mann bezeichnet werden möchte, sondern dann schon eher als Nicht-Mann. Nun ist es ja äußerst erfreulich, wenn ein Schriftsteller sich anschickt, Sprachungerechtigkeiten anzugehen. Vor allem einfach deshalb, weil das, was bisher aus feministischer Perspektive vorgeschlagen wurde, soweit ich sehe, fast ausschließlich grässliches Deutsch – oder, Kalauer, Herr Meinecke, Nicht-Deutsch – ist: großes Binnen-I und Unterstrich, es tut mir Leid, das kann doch keineR und KEINEr und keine(r) gewollt haben.

Also das wäre ja erfreulich, wenn da ein paar witzige Ideen entstünden, wie bestimmte Muster sprachspielerisch zu unterwandern wären. Kein Grund zu ärgern hierbei also. Und über schlechte Sprache eigentlich auch nicht, wo käme man und ich mit frau da hin – wer da nur anfinge mit dem Ärgern.

Mir wurde allerdings wieder allzu deutlich, was für Scheingefechte da gefochten werden: Als Schriftsteller, also als Autor, als männlicher Romancier, sich hinzustellen und sich den weiblichen Blick zu attestieren, ach du liebe Güte, das ist so originell wie der Herrenwitz im Schützenverein.

Vor allem aber: Es ist eine Diskussion, die soweit entfernt von dem ist, was die meisten – Damen und Herren – in Deutschland ihre Realität nennen würden, wie meine Wohnung von den Bildern in Architectural Digest. Trotzdem schön darin zu blättern, aber mir soll nicht ständig jede Besucherin diese Bilder unter die Nase reiben, wenn sie meine Wohnung betritt. Über einen gewissen Genderei-Verdruss derzeit braucht man sich nicht wundern.

Quellen: Für den "literarischen" Einstieg waren folgende Quellen bedeutsam (deren Argumente ich hier ausdrücklich gar nicht diskutiere):

Montag, 8. Juni 2015

Teresa Präauer: Johnny und Jean


Bei Wallstein erschien schon im August des letzten Jahres Teresa Präauers „Johnny und Jean“, es wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und längst überall durchrezensiert und fertigbesprochen. Der erste Satz, der Eindruck macht, weil er gleich den Ton vorgibt, lautet: „Ich stelle mir vor, wie ich als junger Bub auf dem Land lebe.“ Alles ist Vorstellung, was davon Erinnerung ist, was faktisch geschehen, was Phantasie, das bleibt Johnnys Geheimnis, der die Geschichte erzählt, wie er zur Kunst kommt.

Wie stark doch manche Medienerlebnisse die Rezeption anderer Medien prägen, habe ich bei der Lektüre des Romans gedacht. Vor fünfzehn Jahren sah ich David Finchers „Fight Club“, diesen grandiosen Film, in dem Edward Norton in eine kleine Sinnkrise hineinschlittert und deshalb eine Selbsthilfegruppe aufbaut, deren Mitglieder einander die Nasen einschlagen. Der Clou des Films, den ich nach fünfzehn Jahren wohl verraten darf: Die beiden Hauptfiguren sind nur eine. Das wird am Ende aufgelöst, der Zuschauer ahnt, vielleicht waren die psychischen Probleme doch ein wenig schwerwiegender als zunächst angenommen, ein Arztbesuch zur rechten Zeit hätte helfen können.

Diese Idee, das weiß zum Beispiel der fleißige Dostojewski-Leser, war damals nicht neu. In „Fight Club“ aber mit einer enormen Wucht durchgeführt, so fesselnd, dass auch beim zweiten und dritten Schauen der Film noch mitzureißen vermag, und nicht, wie zum Beispiel bei Shyamalans „The Sixth Sense“, wenn man die Auflösung kennt, alle Spannung verfliegt wie der unsichtbare Geist von Bruce Willis.

Seit ich „Fight Club“ gesehen habe, bin ich auf diese Art der Überraschung gefasst. Ach du, kleines Tigerchen, du jagst mir keine Angst ein. Manchmal bin ich fast enttäuscht, wenn ich feststellen muss, Odenthal-Tatort zu Ende, alles aufgelöst, Mörder gefasst und das wars, sogar Kopper soll eine echte Figur sein.

Bei der Lektüre von „Johnny und Jean“ hatte ich diesen Verdacht nach wenigen Seiten – Jean gibt es gar nicht, er ist das Alter Ego von Johnny. Lange Zeit spielt der Roman ganz in der Vorstellungswelt Johnnys: „Jetzt, stelle ich mir vor, sitzen wir im Lokal am Kai und Jean erzählt mir von seinen Geschichten. Jean hat Affären, wie es zu seinem Namen passt, oder er behauptet, welche zu haben, und ich schweige […].“ Und ich fürchtete die ganze Zeit, der Roman würde die Fiktionen zum Ende hin auflösen, mir eine Lösung präsentieren, die ich zu schlucken hätte. Aber genau das tut der Text nicht, er zeigt vieles, was offenbar Phantasie sein muss und zu dem kein faktisches Geschehen denkbar ist, aber er legt sich nicht einmal in seinen Lügen fest. Diesen Zug bewundere ich sehr an einem Roman – an dem mich sonst manches gestört hat.

Dieser Vorzug des Romans, der den beiden Hauptfiguren gerade so viel Leben schenkt, dass sie nicht auf Allgemeinplätzen totgetrampelt werden, und sie so sehr in der Schwebe hält, dass die Wirklichkeit gar kein Einwand gegen die Erzählung sein kann, ist in anderer Hinsicht eine große Schwäche. Denn als Künstlerroman, der er zu sein vorgibt und als er der verkauft wird, überzeugt er nicht. Hier wirkt er wie ein Konzept für einen Roman: Also, der eine Junge, der macht so total angesagtes Kunstperformance-Zeug und erfindet sich ständig neu, der andere Junge zeichnet einfach irgendwas, Fische zum Beispiel, immer wieder Fische. Super Gegensatz, oder? Viel mehr erfährt man über die Kunst leider nicht. Was für Fische denn? Na, Fische eben.

Es hätte nahegelegen, dass das große Kunstgeschwätz sichtbar gemacht wird in seiner Beliebigkeit, in seinen Hypes, in seinen Klischees. Aber das ist alles viel zu nett, zu unpräzise. Soll der Junge halt seine Fische malen. Und wie die aussehen, ist mir am Ende so egal wie dem Erzähler selbst. Aber ach, was soll die dröge bildende Kunst, wenn man Sätze hat wie diese: „Künstler werden, das sagen manche Menschen so leicht. Aber ab dem Tag der bestandenen Aufnahmeprüfung hört man die Stimmen der Tanten, der Mörder und der Zweifler.“

Dienstag, 19. Mai 2015

Der Moderne Spiesser


Ich stehe etwas ratlos vorm Jägerzaun. Als vor etwa zwei Jahren ein verklinkerter Anbau mit Möbeln vollgestellt wurde, die ich unfehlbar als meine erkannte, lag das Thema für mich irgendwie auf der Hand: Die neue Spießigkeit.

Nun läuft sich zum einen so ein Thema irgendwann tot, was nicht an den Spießern liegt, die durch vegane Ernährung sowieso nahezu unsterblich sind, sondern an mir, dem beim Nachdenken über Soja-Bratlinge mittlerweile so schlecht wird wie beim Essen derselben. Zum anderen habe ich von Freunden freundlicherweise ein Buch geschenkt bekommen, das meinen Blog geradezu überflüssig macht: „Der Moderne Spießer“ von Charlotte Förster und Justus Loring. Das trifft sich gut, so kann ich mit einer kurzen Besprechung dieses Buches nicht das Ende dieses Blogs verkünden, aber immerhin ein paar Veränderungen.

„Der Moderne Spiesser“ ist über weite Strecken sehr witzig, bereits die Zitate, die auf dem Cover abgedruckt sind, zeigen, in welche Richtung es geht, wie „Filme, die man echt im Original sehen muß, damit sie richtig wirken“ oder „‘Das Hinterland Mallorcas hat wirklich schöne Ecken‘ und andere entzückende Erkenntnisse“. Oder die Manufactum-Anspielung: „Es gibt sie noch, die guten Bücher.“

Ertappen ist das Prinzip des Buches: Das scheinbar Individuelle, die scheinbare Erkenntnis dieser Sätze, die so formuliert sind, als würden sie Überraschungen aussprechen, wird gerade als das Typische des Spießers gezeigt. Die Definition des modernen Spießers liefe also auf den Auf-Einem-Allgemeinplatz-Ertappten hinaus. Programmkinoschauer werden aufs Korn genommen genauso wie die Tatort-Gucker.

Das ist ein – auch selbstironisches – Spiel der Autoren, das reichlich Material böte, um daraus irgendein „Generation Y, Doof, Maybe, Golf“-Buch zu stricken. Es bleibt allerdings ein Spiel, das sich keinesfalls zu einer – auch nicht ironischen – Haltung durchringt. Die Ordnung des Spießers, die kommt nicht allzu gut weg, wie bei den „Spießerutensilien, die in keinem Haushalt fehlen dürfen“. Dort ist zum Beispiel die: „Bananenbox aus Plastik. So kommt der gesunde Snack unzerquetscht im Büro an.“

Zu viel Ordnung ist lächerlich. Der Spießer als der allzu Ordentliche. Doch am Ende nehmen wir ihn wieder herzlich in die Arme, denn wir wurden ebenfalls oft genug ertappt. Sei es auf Mallorca, sei es mit dem Kaffeebecher einer Universität in der Hand, wo wir einst ein Auslandssemester verbrachten. Zu vielfältig sind die Zeichen dieses Spießertums, als das am Ende jemand übrigbliebe, der mit dem Finger auf die anderen zeigen könnte. Das ist so gewollt – und zeigt eben die selbstkritische Haltung der Autoren, aber wenn wir alle einmal über uns gelacht haben, ist hier jedes kritische Potenzial endgültig verflogen.

Nicht unbedingt spießig, aber lustig sind die Bemerkungen oftmals schon, wie die Sätze, die den spießigen Chef kennzeichnen sollen: „… das hätte ich fast nicht besser machen können.“ Oder: „Diese E-Mail nicht vor Montagmorgen lesen.“ Oder: „Ich mag Querdenker und Visionäre in meinem Team – Leute wie uns gibt es selten.“ Etc.

Die vermeintlichen Zeichen der Spießigkeit, wie der alte Jägerzaun, der Bausparvertrag oder – etwas neospießiger – der Buddha, haben sich mit diesem Buch erledigt. Was sich in meinen letzten Posts bereits immer wieder abzeichnete, werde ich hier nun verstärkt vornehmen: Buchbesprechungen. Vor allem von Büchern der kleineren Verlage. Und hin und wieder ein paar andere Bemerkungen. Damit darf ich mich ebenfalls zu den Ertappten zählen: Ich werde jetzt einen Literaturblog machen. – Das geht locker als Zeichen einer modernen Spießigkeit nach Förster und Loring durch.

Charlotte Förster u. Justus Loring: Der Moderne Spiesser, Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung 2014.