Montag, 23. März 2015

Aléa Torik: Aléas Ich

Im letzten Artikel schrieb ich über Günter Saalmanns wundervolles Buch „Fiedlerin auf dem Dach“.  Zum eigentlichen Thema des Buches, der Einwanderung einer Familie in Deutschland, habe ich dabei nicht viel gesagt. Ich kenne zu wenig Gegenwartsliteratur, die sich mit Einwanderungen beschäftigt, was sollte ich also dazu sagen? Plattitüden, wie: macht er toll, die Probleme nehme ich der Hauptfigur total ab. Oder: ist echt realistisch, kenne ich genauso von einer Bekannten von meiner Freundin, die übrigens witzigerweise auch Klawdia heißt etc. 

Da fiel mir ein, ich hatte vor etwa anderthalb Jahren schon ein Buch über eine Einwanderin aus dem Osten – diesmal Rumänien – gelesen. Die kommt ebenfalls nach Berlin, widmet sich zwar einer anderen Kunst, Literatur statt Musik, aber der Fall ist ähnlich gelagert: Einwandern, Liebe, Tod, Kunst, so gehen beide Romane. Ich spreche von „Aléas Ich“ von Aléa Torik. Über dieses Buch berichteten damals etliche Feuilletons sehr viel Gutes, der Blog von Aléa Torik ist außerdem ziemlich bekannt (wenngleich es dort derzeit stiller zugeht). 

Das Buch ist 2013 erschienen, und ich habe es – wie gesagt – vor mehr als einem Jahr gelesen. Ich konnte allerdings damals nicht darüber schreiben, zu sehr ärgerte ich mich, als ich es beendet hatte. Nun lässt der Ärger über ein Buch keine Rückschlüsse über die Qualität zu. Der Ärger über „Fifty Shades of Grey“ kann dem Ärger über „Das Schloß“ zum Verwechseln ähnlich sein. Aber warum ärgerte ich mich überhaupt? Das Buch ist verteufelt klug, es ist kühl erzählt, hat eine klare Prosa.

Einen Teil des Ärgers konnte ich leicht verstehen, er handelte eher von mir, denn, verdammt nochmal, ein paar von den Ideen da drin, die hätte ich morgen oder übermorgen auch gehabt. Und dann hätt ich das geschrieben. So ungefähr.

Der andere Teil des Ärgers ist aufschlussreicher, und der beruhte auf einem Missverständnis. Ich hielt das Buch für ein Buch über das Schreiben. Die ganze Autordiskussion, die das Buch losgetreten hatte, interessierte mich, offen gesagt, nicht allzu sehr. Ja, hatte ich schon mal gehört, dass man einen Autor auch fingieren kann. Und wenn man ganz dreist ist, sogar eine Autorin. Als Mann. Skandal. Skandal. Skandal. Und Tusch.

Diese Diskussion verfolgte ich also nur mit einem knappen Ohr, stellte mich blind für diese Geräusche, sozusagen. Und dann, so dachte ich, ist das, was mir bleibt, ein Roman über das Schreiben eines Romans. Nein, raffinierter, nicht eines Romans, sondern des Romans, den man gerade vor sich hat, den man gerade liest.  Das hat etwas Sophies-Welthaltiges, was gar nicht abwertend klingen soll. „Sophies Welt“ ist was Tolles und hat damals viele Menschen zur Philosophie, naja, nicht direkt zur Philosophie, aber in die Nähe, also zum Denken, oder jedenfalls kurz vors Denken, auf jeden Fall zu etwas ganz Tollem, gebracht. 

Das ärgerte mich. Ein Buch, das um sich selbst kreist, das alle Wahrheiten auflöst in der eigenen Fiktion. Jetzt, denke ich, habe ich mein Missverständnis endlich selbst verstanden. Eine Szene, noch ziemlich am Anfang des Buches, die ich schon bei der ersten Lektüre grandios fand, kam mir im letzten Jahr immer wieder ins Gedächtnis – und erst vor kurzem habe ich sie etwas besser verstanden. Aléa und Olga ziehen gerade in eine gemeinsame Wohnung, ein paar Männer helfen ihnen:

„Wir betraten die Wohnung. Es war nicht viel zu sehen. So eine Wohnung ist nur eine bestimmte Anzahl leerer Räume. Ich kramte in meiner Tasche, holte Block und Stift heraus und schrieb das auf.
‚Was schreibst du?‘, fragte Rainer.
‚Dass Wohnungen aus Hohlräumen bestehen.‘
‚Warum schreibst du das auf?‘
‚Weil ich das Gefühl habe, dass ich das noch brauche.‘
‚Wie meinst du das?‘
‚Ich kann Formulierungen nicht lange im Gedächtnis behalten. Aber ich spüre es, wenn ich sie noch benötigen könnte. Ich richte mir das Leben vielmehr so ein. Ich lebe nach literarischen Gesichtspunkten.‘
Wir gingen in die Küche. Auf dem Boden stand ein roter Eimer, den sicher ein Handwerker vergessen hatte. Es roch nach Farbe. Rainer schien die Konversation nicht wieder aufnehmen zu wollen. Als ob unser Gespräch im Auto gar nicht stattgefunden hätte. Aber es hatte stattgefunden! Ich sah ihn von der Seite an und je länger ich ihn ansah, desto besser gefiel er mir. Ich verließ die Küche und ging auf den Balkon, der zu Olgas Zimmer gehörte. Rainer ging in mein Zimmer. Wir kannten uns kaum und gingen bereits getrennte Wege.
Die Wohnung klang leer, als müsse sich jedes Geräusch erst seinen Platz suchen. Ich holte mein Heft und schrieb auch das auf.“

Der Witz ist klar: Aléa schreibt treffende Formulierungen in ihr Notizheft, die später einmal im Roman stehen könnten – und sie stehen damit im Roman. Daraus schloss ich, es ginge darum, wie die Idee in den Roman kommt, also das Schreiben über das Romanschreiben. 

Aber genau darum geht es nicht! Natürlich handelt der Roman von einer Autorin, die ihren – also diesen – Roman schreibt. Aber darum geht es nicht! Das ist nicht der Kern. Denn das würde ja bedeuten, die Szene oben sei realistisch wiedergegeben, als wäre es so oder so ähnlich zugegangen. Als wären die Worte so in den Roman gelangt. Das ist natürlich Unsinn. Der Text zeigt vielmehr, dass eine Autorin sich Worte notiert und diese Worte – schon während sie ins fiktive Notizbuch niedergeschrieben werden – im realen Roman stehen. 

Worum geht es dann? Jetzt lese ich den Roman als einen Text über Macht. Aléa erlangt durch ihr Schreiben Macht, sie beginnt, das Geschehen zu bestimmen. So ist der Satz oben zu lesen: „Aber es [das Gespräch] hatte stattgefunden!“ Mit Ausrufungszeichen, das heißt, die Autorin legt das hier fest, das Gespräch war da, es kann nicht geleugnet werden. Es ist die Macht über die eigene Geschichte, die hier verhandelt wird – und auch deshalb ist es stimmig, dass hier eine Einwanderung thematisiert wird, also eine „Geschichte“ überhaupt vorhanden ist. 

Zu diesen Überlegungen kam ich durch die Lektüre des Buches von Günter Saalmann, das Aléa Toriks Buch hierin exakt entgegensteht. Klawdia, bei Saalmann, erweist sich als die, die dem Gespinst des Erzählers nicht entkommen kann. Ihre Einwanderung wird von anderen arrangiert und geschrieben. Ihre Geschichte läuft, und das wird erst im Laufe des Textes deutlich, wie an einer Schnur gezogen, ab. Aléa dagegen will die Macht über ihre Geschichte selbst erlangen, sie schreibt sie kurzerhand selbst, mit all den Figuren, die auftreten.

Oder, um noch einmal so hoch zu greifen, wie es überhaupt möglich ist: In Kafkas „Schloß“, das auch eine Einwanderung behandelt, streiten die Figuren um die richtige Auslegung der Ereignisse, sie wollen die Macht erstreiten, indem sie die richtige Geschichte erzählen. In der „Fiedlerin“ erliegt Klawdia der Geschichte, die von ihr erzählt wird. In „Aléas Ich“ ergreift Aléa die Macht und erzählt die Geschichte kurzerhand selbst.

Spätestens im letzten Drittel des Romans wird die Macht der Protagonistin unheimlich:

„ ‚Baby, ich will nicht sterben‘, sagte Olga.
Ich hatte vollkommen vergessen, dass sie neben mir lag. Wie kam sie darauf, dass sie sterben müsse. Etwas in dieser Art hatte sie auch schon gesagt, als wir uns an der Uni kennengelernt hatten. Allerdings hatte Romi von einem Kind gesprochen, von einem Kinderwagen mit einem quietschenden Rad und wenn Olga ein Kind bekommen sollte, konnte sie jetzt nicht sterben. Das wollte ich aufschreiben. Oder hatte ich das schon aufgeschrieben? Ich musste Olga eine Antwort geben, sie lag neben mir und wartete sicher darauf. Ich muss beruhigend auf sie einwirken.
‚Du stirbst doch nicht‘, antwortete ich.
Allerdings sah sie aus wie eine Sterbende, eine wunderschöne Sterbende.
‚Du darfst mir nichts tun.‘
‚Wie kommst du denn darauf? Ich würde dir niemals etwas tun‘, sagte ich mit möglichst beruhigender Stimme.
‚Ich habe Angst vor dir‘, sagte sie.
‚Ich weiß‘, sagte ich.“

Aléa Torik: Aléas Ich: Osburg 2013.

Mittwoch, 11. März 2015

Günter Saalmann: Fiedlerin auf dem Dach


Klawdia Wessely steht auf dem Dach eines Hauses in Berlin, sie bewegt sich an den Rand, greift nach Ihrer Geige und beginnt zu spielen. So beginnt die Erzählung „Fiedlerin auf dem Dach“ und der Text geht nach diesem Einstieg, der die Frage offenlässt, ob Klawdia vom Dach springen wird, fünf Monate zurück und erzählt, was bis dahin geschah.

Die Geschichte greift nur wenige Jahre in die Vergangenheit zurück, in das Jahr 1999, und doch wirkt der Text wie ein Roman über längst vergangene Zeiten. Was hatten die Menschlein damals für Probleme, kannten keinen IS, nicht einmal Al-Kaida, keine Ukraine-Krise und konnten noch im Kopf den Euro in D-Mark umrechnen. Der Text wirkt fern, auch weil er eine kasachische Einwandererfamilie bei ihrer Einwanderung beobachtet und dieser Familie nahe ist, aber nicht dem Berlin der späten 1990er Jahre. Zugleich ließen sich jederzeit Linien zu unseren Problemen hinüberziehen: Einwanderung, Rechtsradikalismus, Ghetto-Bildung. Aber all das, so mein Eindruck, liegt zwar im Horizont des Textes, aber der kümmert sich nicht besonders darum, weil sich seine Hauptfiguren nicht besonders darum kümmern. Dann geht die kasachische Einwanderin eben mit dem Neo-Nazi „Odin“ ins Bett, es ist ja ihr Leben, möchte ich fast sagen.

Die Erzählung zeichnet dabei ein besonderer Hang zum Realismus aus. Realistische Literatur, die, so wollte das schon Aristoteles, „wahrscheinlich“ ist, liegt im Trend. Die meisten Romane sind realistisch erzählte Romane, sie möchten, dass der Leser die Geschichte „glaubt“, sie „abnimmt“. Ich nenne es einen besonderen Hang zum Realismus, weil Saalmann ein paar Kniffe anwendet, um seine Einwanderergeschichte besonders glaubwürdig zu machen. Er verwendet an einigen (sehr wenigen) Stellen russische oder kasachische Wendungen, ich kann das nicht prüfen, sie sind in kyrillischen Buchstaben gesetzt. Ich darf mich dabei zu denjenigen Lesern zählen, die nicht einen einzigen kyrillischen Buchstaben lesen können, das spielt aber keine Rolle, denn es geht um ein Gefühl von Fremdheit, das sich auf diese Weise vermittelt, wie in einem Film manchmal Figuren auftauchen, die eine fremde Sprache sprechen, die weder übersetzt, noch untertitelt wird. Doch im Film hat man die Bilder, hier stehen allein fremde Buchstaben auf dem Papier herum, die ich nicht kenne, zu denen ich keinen Zugang habe. Das passt nur allzu gut zu einem Roman, der eine Einwanderung behandelt.

Im Gegenzug erfahre ich immer wieder, wie Klawdia sich deutsche Worte und Redewendungen notiert, mitsamt kurzen Erläuterungen, zum Beispiel: „Der Scheiß (Männliche Form von die Scheiße)“ oder: „Zustimmung: Auf jeden, Alter! Auf gar keinen!“ Diese Notizen sind eingelegt in den Romantext, der nicht in Ich-Form erzählt, sondern einen Erzähler beherbergt, der genau weiß, wie er die Gegebenheiten arrangieren muss, um die Spannung langsam und stetig zu steigern. So weit, so gut der Roman.

„Die Fiedlerin auf dem Dach“ ist bei dem Allerkleinstverlag „Eichenspinner“ erschienen. Und mich interessiert – nicht erst seit dem Sundermeier-Interview – die Frage, was eigentlich die Texte kleiner Verlage von den Texten großer Verlage unterscheidet. Veröffentlichen die Independent-Verlage eigentlich eine „andere“ Literatur als die großen? Oder sind die nur zufällig klein geblieben, weil gerade nicht mehr Leser zur Hand waren? Bei dem klugen Blog „Aisthesis“ kommentierte ich etwas naiv vor kurzem in einem etwas anderen Zusammenhang: „Und wer zu einem guten ‚Indie-Buch‘ gegriffen hat, wird am Ende vielleicht in seinen Blog schreiben, das Buch hätte genauso gut bei Hanser verlegt werden können. Das war ja gar nicht schlechter.“

Könnte ich jetzt in meinen Blog schreiben. Die „Fiedlerin“ hätte Hanser veröffentlichen können. Eine Frage der literarischen Qualität ist das sicher nicht. Das trifft ein Problem, das mich beschäftigt. Bei manchen Verlagen, zum Beispiel Nautilus, liegt es auf der Hand, die machen was anderes, was die großen so nicht machen können. Aber konkret zu Saalmann: Warum erscheint sein Roman nicht bei Hanser oder Rowohlt? Inwiefern fällt der Text aus der Reihe? Diese Frage ist wahrscheinlich falsch gestellt und falsch gedacht, allzu schematisch, als gäbe es die Hanser-Literatur oder die Eichenspinner-Literatur. Und als ob die Größe irgendetwas aussagte.

Die Fährte ist aber nochmal richtig: Was zeichnet den Text aus? Und dann muss ich erneut die merkwürdige Erzählhaltung ansprechen, die immer ganz eng bei Ihrer Hauptfigur bleibt, in abgehackten Sätzen ihre sprunghaften Gedanken und Eindrücke nachahmt:

„Das weltberühmte Brandenburger Tor. Der Potsdamer Platz. Tausend Kräne. Die Siegessäule. Ein ruhiger Boulevard. Hartes Bremsen, eine freie Parkfläche.
„Aussteigen!“, ruft Marja Petrowna. „Kurfürstendamm rechts, zwei Stunden! Zusammenbleiben, die verehrten Damen nicht dauernd vor Staunen ‚Oi!‘ schreien, am besten, überhaupt nicht laut sprechen! Nicht in Weinen ausbrechen! Nerven behalten!““

Zugleich ist der Erzähler weit weg, als berichtete er aus großer Distanz, arrangiert er kunstvoll die Ereignisse in seinem Text. So sind der Einstieg zu verstehen, der das Ende des Buches vorwegnimmt, oder manch eine urteilende Aussage oder die Kapitelüberschriften, die andeuten, was geschehen wird. Und so folgt man Klawdia mit Vergnügen, weder unter- noch überfordert, in eine bemerkenswerte Geschichte, in der sie – und so soll das ja auch sein – der Liebe, dem Tod, dem Geld und der Kunst begegnet.

Günter Saalmann: Fiedlerin auf dem Dach, Eichenspinner 2014.

Klarstellung: Ich bin mit dem Verleger, Lutz Graner, persönlich bekannt. Den Autor, Günter Saalmann, kenne ich nicht. Das Buch habe ich im Buchhandel erworben.