Da fiel mir
ein, ich hatte vor etwa anderthalb Jahren schon ein Buch über eine Einwanderin
aus dem Osten – diesmal Rumänien – gelesen. Die kommt ebenfalls nach Berlin,
widmet sich zwar einer anderen Kunst, Literatur statt Musik, aber der Fall ist
ähnlich gelagert: Einwandern, Liebe, Tod, Kunst, so gehen beide Romane. Ich
spreche von „Aléas Ich“ von Aléa Torik. Über dieses Buch berichteten damals
etliche Feuilletons sehr viel Gutes, der Blog von Aléa Torik ist außerdem
ziemlich bekannt (wenngleich es dort derzeit stiller zugeht).
Das Buch ist
2013 erschienen, und ich habe es – wie gesagt – vor mehr als einem Jahr
gelesen. Ich konnte allerdings damals nicht darüber schreiben, zu sehr ärgerte
ich mich, als ich es beendet hatte. Nun lässt der Ärger über ein Buch keine
Rückschlüsse über die Qualität zu. Der Ärger über „Fifty Shades of Grey“ kann
dem Ärger über „Das Schloß“ zum Verwechseln ähnlich sein. Aber warum ärgerte
ich mich überhaupt? Das Buch ist verteufelt klug, es ist kühl erzählt, hat eine
klare Prosa.
Einen Teil
des Ärgers konnte ich leicht verstehen, er handelte eher von mir, denn,
verdammt nochmal, ein paar von den Ideen da drin, die hätte ich morgen oder
übermorgen auch gehabt. Und dann hätt ich das geschrieben. So ungefähr.
Der andere
Teil des Ärgers ist aufschlussreicher, und der beruhte auf einem
Missverständnis. Ich hielt das Buch für ein Buch über das Schreiben. Die ganze
Autordiskussion, die das Buch losgetreten hatte, interessierte mich, offen
gesagt, nicht allzu sehr. Ja, hatte ich schon mal gehört, dass man einen Autor
auch fingieren kann. Und wenn man ganz dreist ist, sogar eine Autorin. Als
Mann. Skandal. Skandal. Skandal. Und Tusch.
Diese
Diskussion verfolgte ich also nur mit einem knappen Ohr, stellte mich blind für
diese Geräusche, sozusagen. Und dann, so dachte ich, ist das, was mir bleibt,
ein Roman über das Schreiben eines Romans. Nein, raffinierter, nicht eines
Romans, sondern des Romans, den man gerade vor sich hat, den man gerade
liest. Das hat etwas
Sophies-Welthaltiges, was gar nicht abwertend klingen soll. „Sophies Welt“ ist
was Tolles und hat damals viele Menschen zur Philosophie, naja, nicht direkt
zur Philosophie, aber in die Nähe, also zum Denken, oder jedenfalls kurz vors
Denken, auf jeden Fall zu etwas ganz Tollem, gebracht.
Das ärgerte
mich. Ein Buch, das um sich selbst kreist, das alle Wahrheiten auflöst in der
eigenen Fiktion. Jetzt, denke ich, habe ich mein Missverständnis endlich selbst
verstanden. Eine Szene, noch ziemlich am Anfang des Buches, die ich schon bei
der ersten Lektüre grandios fand, kam mir im letzten Jahr immer wieder ins
Gedächtnis – und erst vor kurzem habe ich sie etwas besser verstanden. Aléa und
Olga ziehen gerade in eine gemeinsame Wohnung, ein paar Männer helfen ihnen:
„Wir betraten
die Wohnung. Es war nicht viel zu sehen. So eine Wohnung ist nur eine bestimmte
Anzahl leerer Räume. Ich kramte in meiner Tasche, holte Block und Stift heraus
und schrieb das auf.
‚Was
schreibst du?‘, fragte Rainer.
‚Dass Wohnungen aus Hohlräumen bestehen.‘
‚Dass Wohnungen aus Hohlräumen bestehen.‘
‚Warum
schreibst du das auf?‘
‚Weil ich das
Gefühl habe, dass ich das noch brauche.‘
‚Wie meinst
du das?‘
‚Ich kann
Formulierungen nicht lange im Gedächtnis behalten. Aber ich spüre es, wenn ich
sie noch benötigen könnte. Ich richte mir das Leben vielmehr so ein. Ich lebe
nach literarischen Gesichtspunkten.‘
Wir gingen in
die Küche. Auf dem Boden stand ein roter Eimer, den sicher ein Handwerker
vergessen hatte. Es roch nach Farbe. Rainer schien die Konversation nicht
wieder aufnehmen zu wollen. Als ob unser Gespräch im Auto gar nicht
stattgefunden hätte. Aber es hatte stattgefunden! Ich sah ihn von der Seite an
und je länger ich ihn ansah, desto besser gefiel er mir. Ich verließ die Küche
und ging auf den Balkon, der zu Olgas Zimmer gehörte. Rainer ging in mein
Zimmer. Wir kannten uns kaum und gingen bereits getrennte Wege.
Die Wohnung
klang leer, als müsse sich jedes Geräusch erst seinen Platz suchen. Ich holte
mein Heft und schrieb auch das auf.“
Der Witz ist klar: Aléa schreibt treffende Formulierungen in ihr Notizheft, die später einmal im Roman stehen könnten – und sie stehen damit im Roman. Daraus schloss ich, es ginge darum, wie die Idee in den Roman kommt, also das Schreiben über das Romanschreiben.
Aber genau
darum geht es nicht! Natürlich handelt der Roman von einer Autorin, die ihren –
also diesen – Roman schreibt. Aber darum geht es nicht! Das ist nicht der Kern.
Denn das würde ja bedeuten, die Szene oben sei realistisch wiedergegeben, als
wäre es so oder so ähnlich zugegangen. Als wären die Worte so in den Roman
gelangt. Das ist natürlich Unsinn. Der Text zeigt vielmehr, dass eine Autorin
sich Worte notiert und diese Worte – schon während sie ins fiktive Notizbuch
niedergeschrieben werden – im realen Roman stehen.
Worum geht es
dann? Jetzt lese ich den Roman als einen Text über Macht. Aléa erlangt durch
ihr Schreiben Macht, sie beginnt, das Geschehen zu bestimmen. So ist der Satz
oben zu lesen: „Aber es [das Gespräch] hatte stattgefunden!“ Mit
Ausrufungszeichen, das heißt, die Autorin legt das hier fest, das Gespräch war
da, es kann nicht geleugnet werden. Es ist die Macht über die eigene
Geschichte, die hier verhandelt wird – und auch deshalb ist es stimmig, dass
hier eine Einwanderung thematisiert wird, also eine „Geschichte“ überhaupt
vorhanden ist.
Zu diesen
Überlegungen kam ich durch die Lektüre des Buches von Günter Saalmann, das Aléa
Toriks Buch hierin exakt entgegensteht. Klawdia, bei Saalmann, erweist sich als
die, die dem Gespinst des Erzählers nicht entkommen kann. Ihre Einwanderung
wird von anderen arrangiert und geschrieben. Ihre Geschichte läuft, und das
wird erst im Laufe des Textes deutlich, wie an einer Schnur gezogen, ab. Aléa dagegen
will die Macht über ihre Geschichte selbst erlangen, sie schreibt sie
kurzerhand selbst, mit all den Figuren, die auftreten.
Oder, um noch
einmal so hoch zu greifen, wie es überhaupt möglich ist: In Kafkas „Schloß“,
das auch eine Einwanderung behandelt, streiten die Figuren um die richtige
Auslegung der Ereignisse, sie wollen die Macht erstreiten, indem sie die richtige
Geschichte erzählen. In der „Fiedlerin“ erliegt Klawdia der Geschichte, die von
ihr erzählt wird. In „Aléas Ich“ ergreift Aléa die Macht und erzählt die
Geschichte kurzerhand selbst.
Spätestens im
letzten Drittel des Romans wird die Macht der Protagonistin unheimlich:
„ ‚Baby, ich
will nicht sterben‘, sagte Olga.
Ich hatte
vollkommen vergessen, dass sie neben mir lag. Wie kam sie darauf, dass sie
sterben müsse. Etwas in dieser Art hatte sie auch schon gesagt, als wir uns an
der Uni kennengelernt hatten. Allerdings hatte Romi von einem Kind gesprochen,
von einem Kinderwagen mit einem quietschenden Rad und wenn Olga ein Kind
bekommen sollte, konnte sie jetzt nicht sterben. Das wollte ich aufschreiben. Oder
hatte ich das schon aufgeschrieben? Ich musste Olga eine Antwort geben, sie lag
neben mir und wartete sicher darauf. Ich muss beruhigend auf sie einwirken.
‚Du stirbst
doch nicht‘, antwortete ich.
Allerdings
sah sie aus wie eine Sterbende, eine wunderschöne Sterbende.
‚Du darfst
mir nichts tun.‘
‚Wie kommst
du denn darauf? Ich würde dir niemals etwas tun‘, sagte ich mit möglichst
beruhigender Stimme.
‚Ich habe
Angst vor dir‘, sagte sie.
‚Ich weiß‘,
sagte ich.“
Aléa Torik:
Aléas Ich: Osburg 2013.