Donnerstag, 17. September 2015

Der Moment des Kippens

In manchen Momenten kann ich Politiker beneiden: den beruhigenden Blick auf Bundestagsdiäten beispielsweise, den stelle ich mir schön vor. Oder auch ein Forschungszentrum einzuweihen, am besten etwas löbliches: Erforschung jüdischer Gemeinden in Deutschland oder so; natürlich nicht eine umstrittene Forschung, wie Primaten nacheinander Shampoos und Hirnstöße verabreichen. Da würde ich dann meinen Altmaier schicken. Aber da gibt es durchaus schöne Momente in einem Politikerleben, wie ich es mir vorstelle.

In diesen Tagen allerdings möchte ich kein Politiker sein, da bin ich froh, weit weg von jeder Entscheidung zu sein, nichts mit Asylpolitik, Innerer Sicherheit, EU-Politik zu tun haben. Grenzkontrollen wurden eingeführt – aber was bedeutet das? Die Tragweite einzelner Entscheidungen ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Rückt Deutschland jetzt nach rechts, links, in die Mitte, zwischen die Stühle oder bleibt es auf dem Sonnendeck? Ein „Welcome“ im Bus treibt uns die Tränen in die Augen, brennende Flüchtlingsheime könnten das auch. Es geschieht zu viel in zu kurzer Zeit, das wir kaum einordnen können, das uns „bewegt“ und zur Solidarität treibt, aber dessen Folgen wir nicht verstehen.

Und mit einzelnen Meldungen werden immer wieder die großen Geschichten angerufen: Europa zerbricht! Rechtsradikalisten erstarken! Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Wer weiß denn schon, was passieren wird? Am Ende das Jüngste Gericht, aber bis dahin fließt noch viel Wasser am alten Arsch, dem Kölner Dom, vorbei. 
 
Ludwig Tieck hat vor 200 Jahren ein grandioses Buch geschrieben, über das man in diesen Tagen trefflich nachdenken kann. Es heißt „Der Hexensabbat“. Das Buch behandelt den historischen Beginn der Hexenprozesse in Europa. Hatte bis dahin die Kirche eher Ketzer auf die Folterbank gespannt, ging man nun dazu über Hexen zu verbrennen. Historische Romane haben das Problem, dass sie von der Geschichtsforschung überholt werden können – und mit Tiecks Roman ist das sicher geschehen. Er hält den intensiven Forschungen zu Hexenprozessen wohl kaum noch Stand. Aber das ist nicht mein Thema, und es schadet dem (damals exzellent recherchierten) Roman auch nicht.
Es geht um den historischen Moment des Kippens, wie man es nennen könnte. Wenn aus einer Gesellschaft, die sich gerade freut, dass die unsinnigen Ketzer-Prozesse vorbei sind, dass Vernunft einkehrt und die Städte mehr Freiheit haben, eine Gesellschaft des Hasses und der Angst wird, die erlebt, dass, wie in einer Lawine aus Ereignissen, genau das Gegenteil des Erhofften geschieht: Menschen werden wegen angeblicher Hexerei angeklagt und verurteilt.

Die Romanlektüre lässt sofort die alte Frage herausspringen: Wie konnte es soweit kommen? Die Schwierigkeit, die der Text großartig veranschaulicht, ist die der Gegenwärtigkeit. Solange alles gut geht, geht alles gut. Ging es immer; bis es eben nicht mehr ging. Denn wenn nicht, dann kann aus dem klugen, zurückhaltenden Abwarten das Verpassen der letzten Chance werden. Oder das beherzte Handeln beschleunigt nur einen fatalen Prozess, der im Gegenteil des Bezweckten mündet. Erst im Nachhinein macht sich der Literaturwissenschaftler dann über den Roman her oder der Historiker über die echten Hexenprozesse, jeder wie er kann und mag. Im „Jetzt“ können wir uns noch die lästige Wartezeit an der Grenze auf dem Weg in den Urlaub als Anekdote erzählen oder den lang geplanten Urlaub am Plattensee als kleines Abenteuer mit Blick auf echten Stacheldraht.

Man hatte in Arras gehört, dass jemand ein paar Städtchen weiter der Hexerei angeklagt wurde – wunderte sich und lachte.

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