Manchmal begehen Menschen wegen ihres Glaubens Dummheiten. Sie sprengen sich beispielsweise in die Luft. Oder sie stürmen eine Zeitschriftenredaktion. Oder sie köpfen reihenweise Ungläubige.
Ein moderat
religiöser Mensch wird sich dann beeilen, Erklärungen zu finden: Karl der Große
ließ nur politisch motiviert köpfen. Der Islamismus hat nichts mit dem Islam zu
tun. Der Extremismus entspringt allein den Problemen unserer modernen
Zivilisation. Das mag ja alles sein, und so kommt ein religiöses Weltbild
wieder in Ordnung. Aber die eine oder andere Äußerung, die sich in religiöser
Literatur findet, macht den Sachverhalt komplizierter. Zum Beispiel Kierkegaard.
Sören
Kierkegaard hat ein Buch über eine der schaurigsten Geschichten des Alten
Testaments geschrieben, das an schaurigen Geschichten nicht arm ist. „Furcht
und Zittern“ handelt von der Opferung Isaaks. Eine Geschichte, die in der
Literatur und Kunst immer wieder variiert wurde: Abraham soll Stammvater eines
großen Volkes werden, so hat es Gott verheißen. Er wird alt und älter, seine
Frau bekommt aber keinen Sohn. Irgendwann, die neunzig Jahre hat er längst
überschritten, hätte er das Thema vielleicht beiseiteschieben mögen – och,
jetzt will ich echt kein Kind mehr. Weißt Du, wie anstrengend das ist, Gott? –,
aber da, ja da bekommt Sarah, seine Frau, einen Sohn: Isaak.
Der kleine Isaak
wächst heran, prompt hat Gott eine echte Schnapsidee: Opfere mir Deinen Sohn
auf dem Berg da drüben! Abraham geht tatsächlich los mit seinem Sohn und ist
bereit, ihn zu opfern. Im letzten Moment greift Gott ein und sagt: „Stopp, halt.
Lass mal gut sein, hier, nimm den Widder, opfere den, lass den Jungen in Frieden.“ Rettung in
letzter Sekunde. Das Wunder geschieht, Gott greift in letzter Sekunde ein!
Um ihr (und mein)
Weltbild schleunigst wieder in Ordnung zu bringen, haben Theologen alles
Mögliche gegen diese Geschichte vorgebracht: sie soll zum Beispiel nur zeigen,
dass der alttestamentliche Gott ganz echt keine Menschenopfer will – und hier
setzt sich das endlich durch. Das wäre eine schöne historische Belehrung,
früher waren Menschenopfer gut, seit Isaak schlecht.
Kierkegaard
nimmt die Geschichte dagegen sehr ernst. Er nimmt sie als Exempel für einen
Fall, der genauso den Selbstmordattentäter interessieren dürfte. Kierkegaard
fragt: Gibt es eine teleologische Suspension des Ethischen? Das ist etwas
kompliziert gefragt. Einfacher: Ist es denkbar, dass es unter bestimmten
Umständen gerechtfertigt sein könnte, etwas Unethisches zu tun? Also durch den
Mord am eigenen Sohn beweisen – ein krasseres Beispiel dürfte kaum jemandem
einfallen –, dass man den Worten Gottes glaubt.
Kierkegaard
sagt: Ja, es gibt eine solche Suspension des Ethischen. „Furcht und Zittern“
ist damit, das dürfte klar sein, eine ungeheuerliche Zumutung. Ob man mit
dieser Zumutung denn irgendetwas anfangen kann – und was? –, das interessiert mich
an dieser Stelle allerdings erstmal weniger. Ich nehme die Zumutung hin und
Kierkegaard weiterhin ernst und frage mich dann: Aber ist das nicht DIE Rechtfertigung
für Extremisten, für Sektierer, für terrorisierende Radikale?
Friedrich
Wilhelm Graf hatte zum 200. Geburtstag Kierkegaards einen vernichtenden Artikel
über ihn für die WELT verfasst. Ich hatte den schon einmal verlinkt und nur
darauf hingewiesen, dass ich das für vollkommen verfehlt halte. Graf folgt im
Grunde einer ähnlichen Argumentation und macht Kierkegaard zu einem Vordenker
eines radikalen Fundamentalismus.
Aber lieber
Herr Graf, werte Fundamentalisten, Sektierer und angehende Attentäter, der
Preis, den Kierkegaard einfordert, um gegen das Ethische verstoßen zu dürfen, ist
hoch. Es geschieht – und darum geht’s ja gerade – in „Furcht und Zittern“.
Sogar in solcher Furcht, dass Abraham – bei Kierkegaard – nicht darüber
sprechen kann. Zu Niemandem. Es gibt keine sektiererische Gemeinschaft,
niemandem, der Mut zuspricht, und erst Recht keine Gewissheit, später die Absolution oder ein
paar Jungfrauen zu bekommen. Abraham ist allein.
Nochmal von
der anderen Seite aufs Pferd. Was unterscheidet – ich trau mich kaum zu fragen –
eigentlich die Hitler-Attentäter von den IS-Attentätern? Mit Kierkegaard
gesprochen läge der Unterschied nicht allein (jajaja, natürlich auch!) in den
jeweiligen Systemen, die bekämpft werden (NS vs. Ungläubige), sondern es kann
auch ein Unterschied bei den jeweiligen Subjekten angenommen werden. Aus der Distanz
ist der Unterschied für uns ja leicht auszumachen, Stauffenberg war ein Held,
die IS-Attentäter sind böse. Aber war das, würde Kierkegaard vielleicht fragen,
für die Hitler-Attentäter selbst genauso klar? Ist die Suspension des Ethischen
für das Subjekt, das da gegen das Ethische verstoßen will, selbst zu
rechtfertigen? Und wie ist sie keinesfalls zu rechtfertigen? Diese letzte Frage
ist ja entscheidend, wenn Kierkegaards „Furcht und Zittern“ nicht zur
Attentäter-Bibel werden soll.
Ganz platt geantwortet:
Wer sich bei dem Verstoß gegen das Ethische auf der sicheren Seite wähnt, hat,
nach Kierkegaard, eh schon zu Unrecht dagegen verstoßen. Wer den Verstoß gegen
das Ethische kleinredet – bspw.: „Nur Ungläubige!“ – auch. Wer nicht zittert,
angesichts seiner Anmaßung, sowieso.
Um die Kurve
zum Blog-Thema zu bekommen: Kierkegaard ist nicht nett zum Spießbürger und zum Kulturchristen. Aber das heißt nicht, dass man mit seinem „Furcht und
Zittern“ in der Hand begänne, auf Ungläubige einzuschlagen.